Kultur

Amerikaner lebte 27 Jahre lang in der Einsamkeit

Christopher Knight verbrachte fast drei Jahrzehnte allein im Wald des US-Bundesstaats Maine. Michael Finkel erzählt in seinem Buch "Der Ruf der Stille" die Geschichte des Einsiedlers

Leben ohne Feuerstelle: Hier lebte Christopher Knight 27 Jahre lang. Der See mit den Wochenendhäusern, aus denen er alles Lebensnotwendige klaute, war nah. | © Maine State Police/dpa

Anke Groenewold
26.09.2017 | 26.09.2017, 16:46

Bielefeld. Christopher Knight war schon immer gern allein gewesen. Im Alter von 20 Jahren stieg er in sein Auto und fuhr einfach los, ohne Abschied, ohne Ziel. In Florida angekommen, kehrte er wieder um. Zurück in Maine warf er im Vorbeifahren einen letzten Blick auf sein Elternhaus.

Als ihm der Sprit langsam ausging und er auf immer schmaler werdenden Wegen nicht mehr vorankam, ging er mit Rucksack und Zelt in den Wald. Hinter großen Findlingen, einer natürlichen Barriere richtete sich der junge Mann ein, der zuvor noch nie in einem Zelt geschlafen hatte. 27 Jahre lang blieb Knights Nest unentdeckt – sieht man einmal von einer ungewollten kurzen Begegnung ab, die Knight mit Wanderern hatte.

Fasziniert von dem Eremiten: Der US-Autor Michael Finkel. - © Doug Loneman
Fasziniert von dem Eremiten: Der US-Autor Michael Finkel. | © Doug Loneman

Er würde vermutlich heute noch in seinem stillen, aufgeräumten Refugium leben, wenn er nicht 2013 auf einem seiner nächtlichen Beutezüge in einem Sommercamp erwischt worden wäre. Was er zum Überleben brauchte, stahl Knight aus nahe gelegenen Wochenendhäusern am Ufer des North Pond.

Gewehr und Angel hatte er zu Hause gelassen. Selbst in den eisigen Wintern entfachte er kein Feuer aus Angst, der Rauch könne ihn verraten. Das Terrain erlaubte Knight, der Welt abhanden zu kommen und sie zugleich vom Rand aus zu beobachten.

Die Geschichte des sogenannten „Eremiten vom North Pond", der im Wald stets Wert darauf legte, gepflegt auszusehen und saubere Kleidung zu tragen, machte international Schlagzeilen. Allein dem Journalisten Michael Finkel gelang es, Knights Vertrauen zu gewinnen. Neun Mal besuchte er den wegen seiner Diebstähle angeklagten Mann im Gefängnis. Die jeweils einstündigen Gespräche bilden den Kern des faszinierenden Buchs „The Stranger in the Woods".

»lch hatte keinen Plan, ich habe es einfach getan«

In „Der Ruf der Stille", so der deutsche Titel, webt Finkel um die aus vielen Blickwinkeln beleuchtete Lebensgeschichte des eigenwilligen Mannes eine vielschichtige und dichte Reflexion über Lebensentwürfe und Bedürfnisse, über Anderssein, Einsamkeit und Stille. Knights Weg ist extrem, aber sein Rückzug vom Trubel der Welt steht in einer langen spirituellen Tradition.

Finkel erzählt leidenschaftlich, tiefschürfend. Er regt die Leser an, eine Haltung zu Christopher Knight zu finden und sich selbst und den eigenen Lebensstil zu hinterfragen. Warum er sich von einem Tag auf den anderen in den Wald zurückzog, sei ihm selbst ein Rätsel, sagt der hochintelligente Aussteiger, der in 27 Jahren nur ein Wort gesprochen hat, dessen poetische, eigenwillige Sprache Autor Finkel aber tief beeindruckt hat. „Ich hatte keinen Plan, als ich fortgegangen bin, ich habe an nichts gedacht. Ich habe es einfach getan", so Knight.

Nach und nach richtete sich der Eremit mit den erbeuteten Gegenständen sein „Wohnzimmer" ein. Über das Zelt spannte er eine schwarze Plane, Äste band er zusammen, um nicht aus der Luft entdeckt zu werden. Knight schlief auf einer Boxspringmatratze, davor lag ein Teppich. Er hortete Lebensmittel für die eisigen Winter. Er überstand sie in mehrere Schlafsäcke gehüllt und ohne je eine Erkältung zu bekommen. Hunger, Kälte und Zahnschmerzen setzten dem Mann zu, dennoch blieb er im Wald.

Grisham-Romane wurden zu Klopapier

Er stahl ein Radio und große Mengen Bücher. Dostojewskis „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" wurde sein Lieblingsbuch, Grisham-Romane zu Klopapier. „Ich war nie gelangweilt", versichert Knight. Langeweile betreffe nur Menschen, die glaubten, jederzeit etwas tun zu müssen. Auch sei er nie einsam gewesen. Eine Existenz im ewigen Jetzt erkennt Autor Finkel in Knight, den Verlust des Ich. Zen. Knight selbst schiebt der Überhöhung seiner Existenz einen Riegel vor: Als Finkel ihn nach einer Erkenntnis oder Weisheit fragt, rät der Mann aus dem Wald dem Reporter trocken zu „genug Schlaf".

Sensibel porträtiert Finkel nicht nur den Eremiten, sondern auch die Beziehung, die sich zwischen ihm und Knight entwickelt. Mehrere hundert Journalisten aus aller Welt bettelten um ein Interview mit Knight. Warum drang allein Finkel zu dem Einsiedler vor?

Finkel erklärt das mit Ähnlichkeiten zwischen sich und Knight. Beide seien gescheiterte Idealisten mit schlechtem Gewissen. Knight, weil er für sein Leben in Freiheit rund 1.000 Diebstähle verübte und bei seinen Opfern Angst und Unsicherheit auslöste.

Er vermisst den Wald

Finkel, weil er beruflich spektakulär abstürzte. Als gefeierter Reporter der New York Times und Verfechter der Wahrheit sah er den Pulitzer-Preis in greifbarer Nähe. Dann der Sündenfall: In einer Reportage über Kindersklaven auf afrikanischen Kakaoplantagen verschmolz er mehrere Personen zu einer einzigen. Die Zeitung warf ihn raus. Was dann geschah, ist bizarr. Ein Mann, der seine Frau und seine drei kleinen Kinder getötet hatte, flüchtete nach Mexiko und gab sich dort als Michael Finkel, Reporter der New York Times, aus. Der wahre Finkel nahm Kontakt zum Täter auf.

Diese Begegnung, die sich zu einem unheimlichen Psychoduell entwickelte, schilderte Finkel in dem bizarren und später verfilmten, aber nicht ins Deutsche übersetzten Buch „True Story".

Nach sieben Monaten Gefängnis wurde Knight auf Bewährung frei gelassen. Michael Finkel besuchte ihn erneut. Es überrascht nicht, dass Knight nach 27 Jahren Einsamkeit und Autonomie nicht glücklich sein kann in seinem Leben in einer Gesellschaft, die ihm Regeln auferlegt. Er vermisst den Wald, doch zurück darf er nicht.