
Bielefeld. Eine kleine Stadt inmitten einer atemberaubenden Eislandschaft. Fortitude am Polarkreis hat nur etwas mehr als 700 Einwohner. Jeder kennt jeden. Es gibt keine Kriminalität, nicht mal Diebstahl. Die Arbeit des Sheriffs beschränkt sich auf Rettungsaktionen für leichtsinnige Touristen. Doch die froststarrende Idylle verwandelt sich in einen Ort des Schreckens, als der Leiter des örtlichen Arctic Research Center grausam zugerichtet in seinem Haus gefunden wird.
Bedenken, dass diese Krimi-Konstellation allzu vertraut sein könnte, lässt die britische Fernsehserie "Fortitude" keine Sekunde aufkommen. Das europaweit auf Sendung gehende, mit Stars wie Sofie Gråbøl ("Kommissarin Lund - Das Verbrechen") und Richard Dormer ("Game of Thrones") besetzte internationale TV-Großprojekt von Sky, packt gleich in der ersten Einstellung: Ein Tierfotograf stakst mit Kamera und in weißer Tarnkleidung durch eine windgepeitschte Szenerie aus gigantischen Eiswürfeln. Plötzlich hört er durch das Tosen furchterregende Schreie. Er zückt sein Gewehr. Durchs Zielfernrohr sehen wir mit ihm, wie ein Eisbär einen Mann offenbar bei lebendigem Leib frisst. Der Fotograf drückt ab.
Schönheit und Grausamkeit der arktischen Natur bilden die spektakuläre Kulisse der zwölfteiligen, von Simon Donald ("Low Winter Sun") geschriebenen Serie. Fortitude ist eine fiktive Ortschaft auf der norwegischen Inselgruppe Spitzbergen, gedreht wurde an der Ostküste Islands.
Die Kamera schwelgt in einzigartigen Panoramen karger Bergzüge, bizarr geformter Gletscherfelder. Grüne Polarlicht-Schleier illuminieren den Nachthimmel. Aber auch Eisbär-Attacken gehören zum Alltag in Fortitude. Die Einwohner, selbst Kinder, sind deswegen gesetzlich verpflichtet, Gewehre zu tragen.
Die schroffe Natur ist eigentlicher Hauptdarsteller der Serie. Wie die Sumpflandschaft Louisianas in der hochdekorierten US-Serie "True Detective" korrespondiert sie perfekt mit dem Krimiplot. Unter der blendend hellen Decke von Schnee und Eis scheint etwas zu lauern. Der Soundtrack und der fantastische Titelsong "Peeling off the Layers" des schwedischen Pop-Duos "Wildbirds & Peacedrums" verstärken die mystische Atmosphäre.
"Jeder hat einen Job, niemand ist arm, alle sind glücklich", weist die junge Wissenschaftlerin Natalie (Sinenna Guillory) einen neuen Kollegen in die Verhältnisse ein. Diese Fassade ist spätestens nach dem schockierenden Mord am Leiter des Forschungszentrums Makulatur. In ruhigem Erzähltempo, das anfangs etwas Geduld erfordert, werden die Risse in der aus vielen Nationalitäten zusammengesetzten Polar-Gemeinde aufgezeigt.
Alle haben ihre kleinen und großen Geheimnisse, sind irgendwie verdächtig. Gouverneurin Hildur Odegard (grandios: Sofie Gråbøl) treibt den Bau eines Eishotels voran. Das touristische Projekt soll der alten Minenstadt wirtschaftlichen Aufschwung bescheren, aber es droht an Umweltbedenken Professor Stoddarts (Christopher Eccleston) zu scheitern. Dessen unnatürlicher Tod hilft der Gouverneurin.
Auch der grimmige und im Umgang mit Kapitalverbrechen wenig erfahrene Sheriff Dan Anderssen (Richard Dormer) ist schwer zu durchschauen. Er manipuliert Ermittlungen und ist bereits am Tatort, als der verstümmelte Leichnam des Professors entdeckt wird. Der todkranke und alkoholabhängige Tierfotograf Henry Tyson (prachtvoll präsent: Sir Michael Gambon, Dumbledore aus den Harry-Potter-Filmen) ist überzeugt, dass die Gouverneurin und ihr Sheriff den wichtigsten Gegner ihres Gletscher-Hotels aus dem Weg geräumt haben.
Tysons anonym am Telefon geäußerter Verdacht ruft Kommissar Eugene Morton aus London auf den Plan, schließlich war das Opfer Brite. Morton soll die Ermittlungen unterstützen. Der ehemalige FBI-Agent stößt auf eine Mauer aus Feindseligkeit, weiß diese aber mit ausgebufftem Charme zu umgehen. Stanley Tucci ("Der Teufel trägt Prada", "Die Tribute von Panem") ist mit seiner nuancierten Darstellung die Idealbesetzung für diese Rolle. In feinem Wollmantel und Schiebermütze mischt er die dick gepolsterte norwegische Polizistenschar auf, setzt augenzwinkernde Pointen im düsteren Thrillergeschehen.
Die Figur Mortons ist eine Anspielung auf die 80er-Jahre-Kultserie "Twin Peaks". In David Lynchs TV-Klassiker, der 2016 fortgesetzt werden soll, ermittelt ebenfalls ein von außen kommender Agent in einem Mordfall und deckt Abgründe in dem biederen Städtchen auf. Auch Mystery-Elemente à la Twin Peaks zeichnen sich in den ersten vier Folgen ab, auf denen diese Rezension basiert. Ein Mann führt sich wie besessen auf. Ein Junge erkrankt rätselhaft.
Die Eisbären verhalten sich seltsam. Der sensationelle Fund, der das Gletscher-Hotel zu verhindern droht, entpuppt sich als ein tausende Jahre alter Mammut-Kadaver, den die Erderwärmung aus dem ewigen Eis gelöst hat. Zwei Minenarbeiter, haben ihn illegal beiseite geschafft und wollen ihn zu Geld machen. Das unheilschwangere Geheul aus dem Off, das jedes Mal ertönt, wenn die Kamera den auftauenden Tierkörper abtastet, lässt übersinnliche Verwicklungen erahnen.
Aus bewährten Zutaten haben die "Fortitude"-Macher etwas ganz Eigenes geschaffen. Es mag vielleicht zu viele Krimiserien geben. Diese sollte man dennoch nicht verpassen.