Paderborn-Benhausen. Lauter kleine Gesichter schauen aus den Fenstern des leicht windschiefen Hauses. Lachend, weinend oder mit rausgestreckter Zunge hängen die kleinen Körper an Fäden, liegen aufeinander gestapelt oder kuscheln sich aneinander. Sie begrüßen jeden, der durch das niedrige Gartentor kommt und auf das Klingelschild mit der Aufschrift "Puppendoktor" zugeht.
Renate Grosse liebt Puppen. Im ganzen Haus sitzen und stehen ihre selbstgemachten Kunstwerke. Auf dem kleinen Operationstisch in ihrem Nähzimmer liegen die zerbrochenen Stücke der Puppen, die sie repariert.
"Ich nehme dafür kein Geld", sagt die Rentnerin, "die Leute die mit ihren Puppen zu mir kommen, geben mir nur die Materialkosten." Wenn sie an die Arbeit geht, liegen Klebepistole, Messer, Modellierstäbe, Fimomasse , Acrylfarbe und Lack bereit. Auch die Kleidchen, Schürzen, Schuhe und Strümpfe stellt Grosse selbst her. "Meine Mutter war Schneiderin und hat mir früh häkeln und stricken beigebracht", erzählt sie, " meine Puppen habe ich schon als Kind eingekleidet."
Im Jahr 1957 reiste die heute 69-Jährige aus der damaligen DDR aus, um ihren Eltern in die Bundesrepublik zu folgen. Dort arbeitete sie zunächst als technische Zeichnerin. "Eigentlich wollte ich ja Mode-Designerin werden, aber das war in der DDR nicht möglich", erinnert sich die Rentnerin, "meine Leidenschaft für Puppen habe ich vor 20 Jahren wieder entdeckt und konnte sie dann mit dem Mode-machen verbinden."
Damals habe sie bei einer Freundin selbstgemachte Marionetten entdeckt und sofort gesagt: "Zeig mir doch mal, wie das geht!" Mittlerweile erstreckt sich Grosses Repertoire von einfachen Stoffpuppen über Porzellan- und Tonpuppen bis hin zu klassischen Zelluloidpuppen aus Kunststoff und Stofftieren aus echter Schafswolle. "Den Ton brenne ich selbst in meinem Ofen", erklärt sie, " die Wolle bekomme ich von einem Schäfer, dessen Tiere hier in der Nähe weiden."
Inspiration holt sie sich regelmäßig aus einer Puppenzeitschrift. Das Wissen über die Eigenproduktion hat sie sich angelesen und kennt sich auch bei Herstellern und Historie einzelner Puppen bestens aus. "Die wertvollsten Puppen sind von der Firma Schildkröt und Käthe-Kruse", erklärt die 69-Jährige, "ich habe zum Thema Puppen auch schon Kurse an der Volkshochschule gegeben."
In ihrer eigenen kleinen Werkstatt reihen sich hunderte Puppen in allen Formen, Größen und Materialien aneinander. An einer langen Wäscheleine hängen ihre selbstgenähten Puppenkleider wie in einem Miniatur-Modegeschäft und werden von einer Lichterkette beleuchtet.
Hier stehen auch Grosses Lieblingsstücke mit denen sie schon Preise bei Wettbewerben gewonnen hat. "Beim internationalen Treffen der Puppen- und Teddykunst " Eurodoll" habe ich 1991 die silberne Auszeichnung bekommen", erzählt sie stolz, "es gibt sogar einen Oscar in Puppenkreisen." Diesen Max-Oscar-Arnold-Kunstpreis für zeitgenössische Puppenkunst habe sie allerdings noch nie gewonnen. "Einmal war ich ganz nah dran, es ist an einer Jurorin gescheitert, die fand, das blau der Puppenhose passe nicht zum Material."
Im Frühjahr wird im thüringischen Coburg wieder der Puppen-Oscar verliehen. "Eigentlich wollte ich ja nicht mehr teilnehmen", so die 69-Jährige, "aber ich kaufe mir dort auch immer mein ganzes Material, das es auch in Bastelläden nicht gibt, und am Ende bin ich dann doch wieder mit dabei."
Doch zunächst konzentriert sie sich auf den Verkauf ihrer fertigen Puppen. "Es soll ein Hobby bleiben, deswegen verkaufe ich nur einmal im Jahr auf den örtlichen Weihnachtsbasaren", sagt die Benhauserin. Ihre antiken Schätze stünden aber nicht zum Verkauf, betont sie während sie sich konzentriert über einen zerbrochenen Puppenkopf beugt. Liebevoll drückt sie die einzelnen Stücke zusammen, bis der Klebstoff hält und das kleine Gesicht wieder lacht.