Paderborner zum Coming-out-Day im Doppelinterview: "Das Outing hört nicht auf"

Paderborn. Ein Coming-out ist etwas ganz Persönliches. Es beschreibt einen inneren und äußeren Prozess von Menschen aus der LSBTIQ-Community (die Abkürzung steht für lesbisch, schwul, bisexuell, trans, inter und queer). Der Coming-out-Tag am Mittwoch, 11. Oktober, soll für diesen Prozess Mut machen und gleichzeitig die Gesellschaft sensibilisieren. Wieso das wichtig ist, zeigen die Geschichten des Paderborners Michael Wiemers und Yeliz Çetin, die in Bielefeld lebt und in Paderborn arbeitet. Wiemers ist 43 Jahre alt und schwul. Die 30-jährige Yeliz Çetin ist mit einer Frau verheiratet. Im Doppelinterview blicken sie auf ihr Coming-out zurück und berichten von Hürden, die bis heute nicht abgebaut wurden. Welches Gefühl verbinden Sie mit Ihrem Coming-out? Yeliz Çetin: Als Erstes fällt mir die Angst ein. Dann das Wort Veränderung. Ich bin davon überzeugt, dass ich schon immer lesbisch war. Aber das zu erkennen, das war auch ein Prozess und hatte etwas mit Identifikation zu tun. Michael Wiemers: Ich hatte seit der fünften Klasse die Vermutung, dass ich auf Männer stehe. Damit begann ein langer Prozess des inneren Coming-outs. Doch ich komme vom Dorf - Hohenwepel bei Warburg - und für mich war Angst auch das vorherrschende Gefühl. Ich hab damals noch einen Kinder- und Jugendchor und die Pfarrjugend geleitet. Von der Familie, über Freunde bis hin zu meinen Hobbys: Durch das Outing hätte alles wegbrechen können. Das war definitiv nicht einfach. Familie und Ehrenamt sind mir sehr wichtig. Es wäre grausam für mich gewesen, das alles zu verlieren. Wie haben Sie sich geoutet? Çetin: Das war nicht beiläufig, sondern ich hatte immer Anlässe. Dann hab ich Freundinnen und Freunden gesagt: "Ich muss mit dir reden." So war das damals auch mit meiner Mutter. Da flossen viele Tränen bei mir. Aber meine Mutter hat sehr cool reagiert. Da mein Vater in Ulm lebt und ich mich über ein Telefonat nicht getraut habe, outete ich mich via Whatsapp. Mein Vater brauchte Zeit, das zu verarbeiten. Das war ein Schlag ins Gesicht für mich. Wiemers: Mein äußeres Coming-out hatte ich viele Jahre später, als ich bereits in Paderborn gelebt habe. Ich habe mich bei meiner Familie mit Anfang 20 geoutet. Meinen Geschwistern habe ich es an Weihnachten per Brief mitgeteilt. Da waren die Reaktionen positiv und mit viel Akzeptanz und Freude verbunden. Meinen Eltern habe ich es ein Jahr später gesagt, als ich meinen Ex-Mann kennengelernt hatte. Ich hätte es persönlich nicht geschafft und habe erneut einen Brief geschrieben. So konnte ich meine Gedanken sortieren und ein paar Antworten auf ihre Fragen liefern. So konnte ich auch die emotionale Komponente rausnehmen. Ich würde es heute wieder so machen. Wie haben Ihre Eltern dann reagiert? Wiemers: Sie haben sich kurz nach dem Lesen des Briefs gemeldet und gesagt, dass ich natürlich weiter willkommen bin. Aber es war schwer für sie beide. Meine Mutter dachte, ich kann nicht mehr in die Kirche oder ins Dorf gehen. Meine Eltern haben meinen Partner anfangs auch nicht gegrüßt. Er wurde ausgeblendet. Das war schrecklich für mich. Ein ganz wichtiger Teil meines Lebens existierte über viele Jahre einfach nicht. Wie ging es dann weiter? Wiemers: Es hat sich schrittweise angenähert. Als mein Vater gestorben ist, merkte meine Mutter, dass mein Partner für mich da war. Das war ein Wendepunkt. Heutzutage ist es überhaupt kein Problem mehr. Meine Mutter geht vollkommen offen mit dem Thema um und wir haben eine sehr gute Beziehung. Sie akzeptiert meinen Lebensweg und steht vollkommen dahinter. Das hätte ich damals nicht gedacht. Bei unserer Hochzeit 2013 waren meine Mutter und meine Schwiegermutter die stolzesten Frauen des Tages. Auch heutzutage - nach meiner Scheidung und mittlerweile neuem Lebenspartner - geht sie jeden Schritt mit und ist immer für mich da. Das gilt genauso für meine Brüder und ihre Familien. Frau Çetin, auch Sie erleben bis heute schwierige Situationen mit Ihrer Frau in der Öffentlichkeit. Çetin: Ja, beispielsweise wenn meine Frau und ich auf offener Straße angefeindet werden. Obwohl wir aus Schutz nicht mal Händchen halten, werden wir angestarrt oder angehupt. Auf einem Festival wurden wir erstmals auch körperlich angegangen. Wir wurden geschubst und beleidigt. Ich verstehe nicht, wieso da so viel Hass in der Gesellschaft ist. Wieso stört es die Menschen, dass ich lesbisch bin? Das macht mich in solchen Situationen wütend. Haben Sie den Prozess des Coming-outs mittlerweile abschließen können? Çetin: Nein, ich muss mich ständig irgendwo outen. Das Outing hört nicht auf. Kürzlich war ich mit meiner Frau auf der Hochzeit meines Cousins, eine türkische Hochzeit. Dort hinzugehen, als wahrscheinlich erste Person mit einer gleichgeschlechtlichen Beziehung in dem Kontext, war auch eine Herausforderung. Spielt es für das Coming-out eine Rolle, dass Ihre Großeltern aus der Türkei stammen und Ihr Vater türkisch sozialisiert aufgewachsen ist? Çetin: Das ist schwer zu beantworten. Ich glaube, es gibt auch in deutschen Kreisen Eltern, die da schlecht reagieren. In meinem speziellen Fall hat es aber definitiv eine Rolle gespielt, dass Teile meiner Familie eher traditionell sozialisiert sind. Herr Wiemers, auch Sie haben das Outing in teils konservativen Kreisen erlebt - und zwar in der Kirche. Wie war das für Sie? Wiemers: Für mich ist Gott und Glaube total wichtig. Ich bin zur evangelischen Kirche konvertiert, weil mein Ex-Mann und ich kirchlich vor Gott heiraten wollten. Zwar gab es damals die Möglichkeit, auch in einer katholischen Kirche zu heiraten. Aber das hätte heimlich und nur im kleinsten Kreis stattfinden müssen - und das wollte ich nach meinem Coming-out nicht mehr. Ich bin wie jeder andere und wollte eine ganz normale Hochzeit mit Freundinnen und Freunden sowie Kolleginnen und Kollegen. Heterosexuelle Menschen müssen sich da auch nicht entscheiden. Nach etwas Recherche und offenen Gesprächen mit dem Pfarrer konnten wir dann heiraten und gleichzeitig einen Segensgottesdienst in der evangelischen Kirche feiern. Das war ein sehr besonderes Erlebnis. Stört Sie der Umgang der Kirche mit der LSBTIQ-Community? Wiemers: Absolut. Aber gleichzeitig erlebe ich in Paderborn viele Menschen, die da offen mit umgehen. Auch die katholische Kirche bietet mittlerweile einiges an in Paderborn. In meiner evangelischen Kirchengemeinde in Borchen gibt es mit meiner Sexualität überhaupt keinen Stress. Egal ob jung oder alt, das interessiert da keinen. Welche Ansichten zum Thema Coming-out in der Gesellschaft würden Sie beide gerne ändern? Çetin: Ein Outing ändert die Person nicht. Mensch ist Mensch - unabhängig von der Geschlechtsidentität oder der Sexualität. Wer sich outet, muss sich nicht verstecken. Das muss ein Hetero-Paar ja auch nicht. Ich würde mir wünschen, dass offen mit dem Thema umgegangen wird. Wiemers: Ich denke, wir müssen bei dem eigenen Outing auch dem Gegenüber Zeit geben, es anzunehmen. Schließlich hat man selber viele Jahre gebraucht, um sich selbst zu finden und zu akzeptieren. Und es hilft, selber locker, offen und positiv mit der Thematik umzugehen. Als Selbstverständlichkeit. Wichtig finde ich, dass es nichts ist, was man sich bewusst oder unbewusst aussucht. Es ist so gegeben und man hat keine Wahl.

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