Wissenschaftlicher Blick auf Libori: "Im Kalender konkurrenzlos die Nummer eins"

Paderborn. Die Historikerin Barbara Stambolis, seit 2006 außerordentliche Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Paderborn, hat sich ausführlich mit Libori befasst und zu religiösen Festen im Wandel publiziert. 2019 hat sie zu Kleinlibori in der Paderstadt einen Festvortrag mit dem Titel &bdquo;Libori: gefühlt einzigartig! Facetten und Bilder eines außergewöhnlichen Festes" gehalten. Frau Stambolis, Sie sind eine ausgewiesene Kennerin des Liborifestes. Unter diesem fasst jeder etwas anderes: Dem einen fallen als erstes Biertheken ein, vor denen sich viele Menschen drängeln; junge Paderborner denken an Zuckerwatte und Karussells, meine Großmutter denkt an Hosengummi und Mieder und meine Tante an ihre Landfrauen und die Beisetzung des Liborius-Schreins am Dienstag. Was ist eigentlich der Kern von Libori?Barbara Stambolis: Das Liborifest hat bis ins 21. Jahrhundert den Zusammenklang von religiösen und weltlichen Festelementen bewahrt. Das Miteinander von Feierlichkeiten im Dom, Markt und Kirmes war über Jahrhunderte selbstverständlich. Das Fest hat religiös-kirchliche Wurzeln, die mit der Verehrungsgeschichte des heiligen Liborius zusammenhängen. Das findet sich heute nur noch selten, beim Send in Münster beispielsweise sind diese Anfänge längst nicht mehr gegenwärtig. Das besondere Flair des Miteinanders von kirchlichem und weltlichem Libori vermittelt sich den Besucherinnen und Besuchern auch durch räumliche Nähe von Heiligenverehrung, Markt und Kirmes. Diese Facetten unterlagen einem spannenden historischen Wandel, sie wurden Zeitverhältnissen und Bedürfnissen immer wieder neu angepasst. Oktoberfest und Libori sind schwer zu vergleichen Libori gehört mit dem Münchner Oktoberfest und dem Cannstatter Wasen zu den größten deutschen Volksfesten. Wie kam es dazu in Paderborn, das doch – im Vergleich zu München und Stuttgart – immer noch recht klein und beschaulich ist?Stambolis: Überraschend ist die Erfolgsgeschichte des Paderborner Hauptjahresfestes zweifellos: Liborius ist ja als Heiliger keineswegs überregional besonders bekannt. Viele Menschen haben über die Jahrhunderte wohl – besonders in Krisenzeiten – zu Libori im Dom gebetet, ohne bei ihrem Besuch auf das Treffen mit Freunden und Verwandten und den Zauber freier, unbeschwerter Zeit ohne Arbeit zu verzichten. Sie erinnerten sich oft lebenslang an diese Besuche als besondere Ereignisse in ihrem Leben. Zudem hat man es in Paderborn verstanden, Jubiläumsanlässe, Gedächtnisjahre, das Ende von Kriegen und Krisen, die Besuche hoher Würdenträger und anderes mehr stets mit Libori zu verknüpfen. Libori ist also im Jahresfestkalender konkurrenzlos die Nummer eins. Dazu bedarf es nicht der Größe und Anziehungskraft, die München und das Oktoberfest genießen. Vielleicht lassen sich das Oktoberfest und Libori auch nur schwer mit wenigen Sätzen vergleichen. Zur Verehrung des heiligen Liborius gesellte sich ab 1521 der Magdalenen-Markt, auf dem Kaufleute und Handwerker ihre Waren feilboten. Ab dann stehen also Frömmigkeit und Kommerz nebeneinander. Wie passt das zusammen?Stambolis: Wallfahrten, Handel und Geschäft bildeten über viele Jahrhunderte hinweg keine Gegensätze. Nach dem Willen des Gründers, des damaligen Paderborner Bischofs, sollte der Magdalenenmarkt vom 16. bis 26. Juli stattfinden. Er fiel sowohl mit dem Tag der Kirchweihe des Domes als auch mit den Festtag des heiligen Liborius am 22. Juli zusammen und bot gute Voraussetzungen für ein blühendes Marktgeschäft. Zu dem Paderborner Hauptfest konnte Libori tatsächlich nicht werden ohne Markt und Kirmes. Hin und wieder im Rampenlicht Und welche Funktion hat in dieser Gemengelage das Amüsement, das seinen Ausdruck in der Kirmes findet, die sich im Verlauf der Zeit gleichfalls etabliert?Stambolis: Die Entwicklung der Liborikirmes gewinnt erst im 19. Jahrhundert sehr deutliche Konturen in den schriftlichen Quellen. Sie entwickelte sich zu einem Ort vielfältigen Vergnügens mit einer Vielfalt von Attraktionen: Karussells, Tiervorführungen, Theatervorstellungen, Panoramen, in denen Weltereignisse und -sensationen kleinformatig bildlich zu bestaunen waren, zogen die Besucher an. Auch die Paderborner Geschäftswelt und Gastronomie profitierte von der Ausweitung der Kirmes. Vertreter der Politik sind immer gern zu Gast, wenn Paderborn ganz im Zeichen von Libori steht. Aber bekommt das Volksfest dadurch tatsächlich eine politische Facette? Oder gehören die Redner, die etwa beim Handwerkertag oder vor den Landwirten sprechen, eher mit zum Unterhaltungsgeschehen des Festes?Stambolis: Als Helmut Schmidt 1968 beim Liborimahl als Redner eingeladen war, sagte er, in Paderborn sei &bdquo;bereits im frühen Mittelalter europäische Politik gemacht" worden, womit die Begegnung von Papst Leo und Karl dem Großen im Jahre 799, aber auch die Geschichte der Beziehungen zwischen Le Mans, der Heimat des Liborius, und Paderborn gemeint gewesen sein kann. Dieses Beispiel zeigt, wie Paderborn hin und wieder medial ins Rampenlicht geriet, wenn ein prominenter Politiker hier zu Libori mit aussagekräftigen Sätzen hervortrat. Mittlerweile ist in der Liboriwoche die ganze Stadt in Partylaune, auf den Straßen, in Gärten, Garagen, auf Höfen vor und in Kneipen wird gegessen, getrunken, getanzt, es wird mächtig konsumiert. Unbeschwertes Vergnügen gibt neun Tage lang den Ton an. Sind die kirchlichen Feierlichkeiten nicht längst in den Hintergrund getreten? Sind sie eigentlich nicht überflüssig?Stambolis: Insbesondere 2020 dürfte neben der Feierlaune manch nachdenkliche Nuance zu Libori sichtbar werden. Ist das Fest schon mal ausgefallen, wenn ja, wann? Im 18. Jahrhundert konnte die Kirmes während des Siebenjährigen Krieges nicht in gewohnter Weise stattfinden. Viehseuchen gefährdeten wiederholt den Libori-Markt. Wenn grundlegende Erschütterungensich in dem – reduzierten – Festgeschehen widerspiegelten, stand oft die Frage im Mittelpunkt, welche Wertorientierungen haltgebend sein könnten. Im weiteren Sinne spirituelle Bedürfnisse finden derzeit möglicherweise nicht nur in Gottesdiensten einen Resonanzraum. Für wen könnte das Entzünden einer Kerze im Paderborner Dom während der Liborioktav 2020 infrage kommen?

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