Paderborn

Theater Paderborn startet mit "In weiter Ferne" in die neue Saison

Regisseur Robert Teufel schlägt den Bogen zu Krieg und Umweltzerstörung

Sie werden ein Paar: Doch wirklich nah kommen sich Todd (Tim Tölke) und Joan (Nancy Pönitz) nicht. Dafür ist die Welt zu chaotisch. Foto: Christoph Meinschäfer | © Christoph Meisnchäfer

11.09.2017 | 11.09.2017, 20:00

Holger
Kosbab

Paderborn. Nach diesem Abend hatte das Publikum wohl Rede- und Deutungsbedarf. Denn Regisseur Robert Teufel hat mit Caryl Churchills „In weiter Ferne“ kein Gute-Laune-Stück auf die Bühne gebracht, mit dem er die neue Spielzeit am Paderborner Theater am Samstag eröffnete. Nachdem zuletzt mit den populäreren Stoffen „Kunst“ von Yasmina Rezas und „Homo Faber“ nach Max Frisch in die neue Saison gestartet wurde, herrscht diesmal Orientierungslosigkeit und Krieg: Die Welt ist komplett unübersichtlich und aus dem Ruder gelaufen.

Im Kontrast dazu schildern Teufel und seine Bühnenbildnerin Rebekka Zimlich (auch Kostüme) all dies in einem extrem überschaubaren Bühnenbild. Nicht, dass etwas von der Sprache ablenkt, die fast alles ist in diesem Stück, bei dem sich die Schauspieler stark zurücknehmen müssen. Sie sind vor allem Transporteure des Textes, aus dem sich der Besucher einen Sinnfaden spannen muss. Bei nur knapp 27 Seiten, länger ist Churchills Vorlage nicht, kann jedes Wort bedeutungsvoll sein, auch wenn es nicht sofort so scheint. Vor allem aber steckt dahinter eine Menge Subtext. Unausgesprochenes und Umschriebenes, das mitschwingt und mitgedacht werden muss wie Umweltzerstörung, Kommerz und Totalitarismus. Etwas, das in gar nicht weiter Ferne gesucht werden muss.

Der Sinn besteht aus dem Herstellen von Hüten, die einmal getragen werden

Die Bühne ist zunächst ein grauer Kubus, der nach hinten trapezförmig zuläuft und nur nach vorn geöffnet ist. Ein übersichtliches Plätzchen – und doch bietet es ausreichend Raum, so dass die Figuren Joan (Nancy Pönitz) und ihre Tante Harper (Annagerlinde Dodenhoff) weit auseinander stehen können. Joan erzählt von etwas, das sie nachts beobachtet hat. Was dies ist, das wird erst ganz allmählich deutlich: Ihr Onkel hat andere Menschen gefoltert und ihnen auf den Schädel geschlagen. Ängstlich und beunruhigt schildert sie dies. Ganz bedächtig versucht ihre Tante Harper ihr die Sorge zu nehmen, indem sie immer neue Erklärungen für das Gesehene erspinnt. Bis zu dem Schluss, dass Joan jetzt Teil einer großen Bewegung sei, die sich der Verbesserung aller Umstände verschrieben habe.

Im Mittelteil wird die Bühne umgebaut, nur das Fundament bleibt da, wo es war. Ist es doch ohnehin ein Boden, eine Erde, auf der wir uns bewegen und wo alles geschieht. Die Bühnenseiten werden umgedreht und zusammengeschoben, sie bilden jetzt den Hintergrund einer Produktionshalle für Hüte, in der Joan mittlerweile arbeitet – gemeinsam mit Todd (Tim Tölke), in den sie sich verliebt. Die Fertigung von Hüten ist der beste Job im System. Hergestellt werden sie zur einmaligen Verwendung von Gefangenen auf dem Weg zur Hinrichtung. Danach werden die Leichen samt überdimensionierter Kopfbedeckung verbrannt. Churchill kritisiert einerseits ökonomische Auswüchse, zudem ist das Hutmachen Bestandteil der Gefangenschaft aller in einem nicht näher beschriebenen unterjochenden System.

Todd spricht von Korruption in der Fabrik, wirklich emotional wird er, wenn er sich mit Joan darüber unterhält, ob Tierhüte oder abstrakte Hüte angesagt sind: Da ist längst klar, dass dies nur oberflächliche Aussagen sind mit einem dahinter liegenden Sinn. Dazu passt die akustische Kulisse, wird im zweiten Teil doch aus dem leisen Hintergrundrauschen der ersten Szene ein lauteres Grollen, das einsetzt, sobald die Handlung oberhalb des Bühnenbildes als Texteinblendung beschrieben wird.

Im dritten Teil ist die Bühne wieder ein Klotz und Todd bei Joans Tante. Sie unterhalten sich über einen völlig unübersichtlichen und unkontrollierbaren Krieg: Nationen, einzelne Berufsgruppen, Tiere und die Natur bekämpfen sich in wechselnden Allianzen. Alles und jeder kann Feind und Freund sein. Todd hat Angst vor Schmetterlingen. Wespen greifen Pferde an. Ingenieure, Köche und Kinder unter 5 werden getötet. Krokodile mit ihrem fauligem Atem sind das Abbild des Bösen, Stockenten vergewaltigen. Lettland schickt Schweine nach Schweden. Rehe greifen Einkaufszentren an, wechseln aber dann auf die Seite der Bewegung. Jeder tötet irgendwen oder irgendwas. Auch mit dem Wetter herrscht Krieg. Die zur Kämpferin gewordene Joan auf Heimaturlaub erzählt von Leichenbergen, vom Tod durch Kaffee, Nadeln, Heroin, Benzin, Haarspray, Fingerhut.

Klingt absurd. Doch im Laufe der Handlung merkt man, wohin sie läuft. Auch wenn Churchill es belässt bei Symbolik, Metaphorik und vor allem drastischen Bildern, die im Kopf der Besucher entstehen. Gut oder böse, richtig oder falsch, Recht oder Unrecht? Solche Kategorisierungen fehlen. Da müssen auch menschliche Nähe und Gefühle auf der Strecke bleiben. Der Applaus war eher verhalten, doch das passte zu diesem nachdenklich stimmenden Abend.