75-jähriger Kinderarzt aus Minden hilft in ganz Deutschland aus

Minden. Als Dr. Helmut Wolschner mit 65 Jahren seine Kinderarztpraxis in Königstor aufgibt, entfacht er die Leidenschaft für seinen Beruf nochmal ganz neu. Im März 2015 ist das. Heute, zehn Jahre später, arbeitet der 75-Jährige immer noch als Pädiater, ist aber viel zufriedener als zuvor. Und dabei tourte der Kinder- und Jugendarzt durch ganz Deutschland, lehnte sich kaum zurück: Von Ingolstadt, über den Starnberger See bis nach Plauen und Frankfurt verschlug es ihn vertretungsweise. Was ihn so glücklich macht? &bdquo;Die fehlende Bürokratie“, sagt Wolschner. Denn wenn er als Arzt Vertretung in einer Praxis macht, ist er nicht für die Abrechnungen und Leistungsbeschreibungen zuständig, er muss sich nicht in neue Computersysteme einarbeiten oder dokumentieren, das machen Medizinische Fachangestellte oder die Praxisleitung. Der Papierkram war ein zentraler Faktor, dass er seine Behandlungsräume damals aufgab. Nachfolge seiner Praxis gescheitert Dabei war die Schließung der Praxis eigentlich nicht Wolschners Ziel, er wollte die Räume an eine jüngere Kollegin übergeben. Mehrere Monate vorher habe die Ärztin ihm zugesagt, sich jedoch vier Wochen vor seinem Rückzug umentschieden, erinnert er sich. Ein anderer Nachfolger fand sich nicht. Helmut Wolschner wusste damals schon, dass er das Praktizieren selbst aber nicht aufgeben wollte: &bdquo;Das ist, als würde man einem Geiger die Hände abhacken. Es war für mich unvorstellbar.“ Das Beispiel fällt dem Kinderarzt leicht. Neben seinem Beruf ist auch die Musik eine große Leidenschaft, er spielt bereits seit früher Kindheit Geige und ist seit 50 Jahren Mitglied im Kinderärzte-Orchester. Beim Erzählen gestikuliert der 75-Jährige ausschweifend, immer wieder verliert er sich während des Gesprächs in wissenschaftliche Ausführungen, erzählt Anekdoten aus seinem Praxisalltag. Die Geige brachte Wolschner auch an die Universität. Bereits als Kind wollte er Unterricht nehmen, habe seine Eltern regelrecht angebettelt, erzählt er. Zu spät habe er jedoch angefangen, geriet an einen desinteressierten Lehrer. Den Musikunterricht während der Schulzeit und eineinhalb Jahre im Orchester bei der Bundeswehr ließ er sich als Ausbildung zum Geigenlehrer anrechnen, er nutzte diesen Abschluss jedoch nie. Wolschner studierte stattdessen Chemie und stieg später über das Vorphysikum in das Medizinstudium ein. Lesen Sie auch: Warum sich fast nirgendwo in OWL neue Kinderärzte niederlassen dürfen Dort fand er eher über Umwege seinen Weg zur Kinder- und Jugendmedizin. Zunächst war er mehrere Monate in der Orthopädie, nahm bereits als Student an Operationen teil. Doch in dem Feld waren ihm die hierarchischen Strukturen zu stark, sagt Wolschner. Über die Gynäkologie fand er seinen Weg letztlich in die Pädiatrie. &bdquo;Ich wollte eigentlich Kinderchirurg werden“, sagt er. Doch da habe es mit der Ausbildung nicht geklappt. Eklatanter Mangel schon 2016 prognostiziert Schon damals hatte Helmut Wolschner den Eindruck, in seinem Feld gebraucht zu werden. Bis heute ist das so geblieben, was sich auch in Zahlen belegen lässt. Nach einer Umfrage des Deutschen Kinderhilfswerks im Jahr 2018 waren 34 Prozent der befragtenEltern der Meinung, es gebe in der Nähe ihres Wohnorts keine ausreichende Versorgung mitKinder- und Jugendärzten. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung prognostizierte schon zwei Jahre zuvor einen eklatanten Arztmangel im Jahr 2030 - auch und besonders bei Pädiatern. Lesen Sie auch: OWL schlecht aufgestellt bei Notfall-Versorgung von Kindern Der hohe Bedarf bewegte Wolschner 2015, seinen Beruf noch nicht an den Nagel zu hängen. &bdquo;Wir haben in ein paar Jahren in Deutschland 30.000 Kinderärzte zu wenig“, betont er. Neue Pädiater würden aufgrund der Bürokratie lieber angestellt werden, statt eigene Praxen zu gründen. Er habe außerdem den Eindruck, dass den Beruf eher Frauen ergreifen würden - und die fielen wegen der Familienplanung häufiger aus. &bdquo;Ich hatte nach meiner Zeit in der Praxis sehr viel Spaß daran, den Kindern zu helfen, ohne die Belastung einer Bürokratie.“ Die schwierige Lage beschäftigt den 75-Jährigen auch politisch. Helmut Wolschner ist Mitglied der Mindener FDP und für diese als sachkundiger Bürger im Sozialausschuss. Seine Fraktion hatte im März eine Anfrage an den Kreis zur kinderärztlichen Versorgung in Minden-Lübbecke gestellt, die Verwaltung antwortete mit dem Verweis auf den offiziellen Versorgungsgrad. Dieser liegt für Kinder- und Jugendärzte hier bei 92,3 Prozent - die Zahl als Messgröße wird von zahlreichen Bürgern und Institutionen allerdings kritisiert. Helmut Wolschner verschlug es 1982 eher zufällig nach Minden. In Münster, wo er studiert hat, gab es schon genügend niedergelassene Pädiater. Er besuchte die Weserstadt und ging ins Rathaus. &bdquo;Ich habe gefragt, ob hier ein Kinderarzt gebraucht wird. Da kam sofort jemand runtergeflitzt“, erinnert sich Wolschner. Friedrich-Wilhelm Steffen war damals Angestellter der Stadtverwaltung, er zeigte dem Mann die Stadt, das damals beste Wohngebiet und mögliche Praxisräume. Auch die Schulsituation gefiel dem Arzt und seiner Frau so gut, dass sie sich für Minden entschieden. Dass nach wenigen Monaten bereits mehr als 1.000 Kinder bei ihm in Behandlung waren, gab Wolschner das Gefühl, richtig entschieden zu haben. 14 Stunden Arbeit ohne Pause In den 30 Jahren seiner Niederlassung in Königstor lebte er für seinen Beruf: Er arbeitete meist von 8 bis 22 Uhr, ohne Pause. Das sei heute nicht mehr denkbar. Lachend erzählt er, wie eine Helferin ihm &bdquo;Milupa“-Milchbreisuppe zubereitete: &bdquo;Als typischer Mann konnte ich das nicht, da hätte ich die Klumpen mitgegessen.“ Es war häufig seine einzige Mahlzeit während der Arbeit. Nach Feierabend war jedoch nicht Schluss: Es folgten Weiterbildungen, mehrere Stunden jede Nacht las er wissenschaftliche Artikel und dann war da noch die Bereitschaft. Kam ein Anruf rein, weil ein Kind krank war, beriet der Kinderarzt oder fuhr zum Hausbesuch. Das Vertrauen zwischen einem Kinderarzt und den kleinen Patienten ist ihm sehr wichtig. Einmal rief ihn ein kleines Mädchen an, sie bekomme keine Luft, erinnert sich Wolschner. Sie sei allein zu Hause, die Eltern waren unterwegs, und bat ihn um Hilfe. Er fuhr zu ihr, half ihr, zu inhalieren, und gab ihr Medikamente. Als die Eltern später nach Hause kamen, lag das Mädchen schon wieder schlafend im Bett und erzählte erst am nächsten Morgen, dass der Arzt da gewesen war. Bereits in seinem Studium begeisterte sich der 75-Jährige für die medizinische Forschung. Diese Tendenz lebte Helmut Wolschner auch in seiner Praxis in Minden aus. Er nahm an mehreren Impfstudien teil und arbeitete so an der Fertigstellung mehrerer Vakzine mit. &bdquo;Impfen ist ein Hauptthema in der Kinderheilkunde“, sagt der Kinderarzt: &bdquo;Wir vermeiden den größten Teil von Kindersterblichkeit durch rechtzeitiges Impfen.“ Sein Wissen teilte er oft und gern mit anderen, von der Ständigen Impfkommission (Stiko) wurde er auch zu Symposien im Ausland eingeladen. Mit einem Augenarzt aus Bremen forschte er an dem Einsatz bestimmter Bestandteile von Milcherzeugnissen zur Bekämpfung von Neurodermitis. Zudem setzte er sich immer wieder intensiv mit Medikamenten, deren Wirkweise und deren chemischen Bestandteilen auseinander. &bdquo;Dafür war mein Diplom-Chemiestudium gut“, sagt er lächelnd. Vom Helfen möchte er sich nicht abbringen lassen Auch heute informiert Wolschner sich regelmäßig im Internet über Neuerungen und Forschung, auch wenn nicht mehr so viel wie früher. Die Biochemie habe sich seit seinem Studium komplett verändert, sagt er. Doch davon, Kindern zu helfen, möchte er sich nicht abbringen lassen. Bereits kurz nach der Schließung seiner Praxis war der damals 65-Jährige deshalb auf dem Weg zu seiner ersten Vertretung. Er habe sich beim Berufsverband der Kinderärzte gemeldet, die haben eine Verwaltungsstelle für Vertretungen. Die meisten Einsatzorte waren in Süd- und Ostdeutschland, Norddeutschland brauchte ihn eher seltener. An den Standorten blieb er unterschiedlich lange, je nachdem, was gebraucht wurde. &bdquo;In fremde Praxen zu gehen, ist gar nicht schwierig“, sagt Wolschner. In Plauen arbeitete er sogar zweieinhalb Jahre, da die eigentliche Ärztin der Praxis unvorhergesehen starb. Sein Privatleben habe er in der Zeit auf die Wochenenden verlegen müssen. Zuletzt war er im Februar in Bielefeld tätig. Dort sei der Ärztemangel in Moment besonders zu spüren: &bdquo;Wenn da ein Arzt ausfällt, bricht das System völlig zusammen.“ Zu Hause in Minden erreichen ihn auch heute manchmal noch Anrufe von Eltern kranker Kinder. Er berate diese, so gut er könne. Im Notfall empfange er die kleinen Patienten auch bei sich, da er sie aufgrund der langen Wartezeiten nicht gern in die Klinik schicke, berichtet Wolschner. Nur Rechnungen schreibe er nicht. &bdquo;Wenn die Eltern mir ein paar Euro oder eine Flasche Wein geben wollen, bitte, aber darum geht es mir nicht. Ich will dem Kind gerecht werden“, sagt der Kinderarzt. Neben der eigentlichen Ausübung seines Berufes und seiner eigenen Weiterbildung legt Wolschner auch viel Wert darauf, Eltern und Ärzte zu informieren: &bdquo;Die Menschen müssen sich selbst helfen können.“ Wenn ein Patient nicht verstehe, wie eine Behandlung funktioniert oder wieso diese nötig sei, sei sie auch weniger wirksam. Daher stellt er auf seiner Website verschiedenstes Info-Material bereit, von einem Baby-Ratgeber bis hin zu Erklärungen zu verschiedenen Medikamenten und Alternativen. Info-Material kam gut an Diese Materialien halfen ihm auch oft in den Vertretungspraxen weiter, erzählt er. Er brachte die Zettel mit und stellte diese dann den Medizinischen Fachangestellten sowie den Eltern zur Verfügung. &bdquo;Die Helferinnen nehmen die Zettel mit Kusshand“, sagt der Pädiater. In vielen Praxen entdeckte er das Material auch einige Zeit nach seiner Vertretung noch. Am Ende werde man eben doch immer noch gebraucht, sagt er. &bdquo;Wir können unsere Kinder und Mütter nicht allein lassen.“ 📱News direkt aufs Smartphone: Kostenloser WhatsApp-Kanal der NW Kreis Minden-Lübbecke

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