Lübbecke. Die Nazis vertrieben Familie Lazarus 1938 mit Gewalt aus Lübbecke. Gestern kehrten ihre Enkel und Urenkel zurück in die Stadt am Wiehengebirge. Nach einem Empfang im Andreas-Gemeindehaus besuchten die Israelis den Platz, an dem ihre deutschen Mitbürger einst das jüdische Gotteshaus zerstörten.
Der kleine Uri ist zum ersten Mal in Deutschland. Wenn sein Vater Ariel Lazarus heutzutage nach Lübbecke kommt, begrüßen ihn Pfarrer und Bürgermeister. Und wenn der 33-jährige Musikdozent die Konzertgitarre im Andreas-Gemeindehaus spielt, applaudieren die 50 Anwesenden begeistert. Der Säugling lacht. Vor ein paar Jahrzehnten war das noch anders. Uris Ur-Urgroßvater Max Lazarus haben die Lübbecker einst aus der Stadt vertrieben.
Max Lazarus war Kantor, Lehrer, Prediger und Leiter des Volkschors Gehlenbeck. Wohl aus Heimatliebe komponierte er ein Lied namens "Mein Lübbecke, o sei gegrüßt".
Doch in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 schmissen Menschen aus Lübbecke der Familie Lazarus die Fensterscheiben mit Steinen ein, drangen in das Zuhause von Max und Julie Lazarus an der Bahnhofstraße 16 ein und zerstörten Kronleuchter, das Radio und Familiengemälde.
"Sicher ist die Familie Lazarus in der Reichspogromnacht zur Synagoge an der Langen Straße geflüchtet", sagt Christel Droste vom Stadtarchiv, die beim Empfang der jüdischen Gäste im Gemeindehaus die Familiengeschichte erzählt. Doch dort gab es keinen Schutz. In jener Nacht brannte die Lübbecker Synagoge lichterloh. Zum Löschen kam niemand.
Ein paar Wochen später schaffte die Familie die Flucht nach Palästina. Still hören ihre sechs Nachfahren der Stadtarchivarin zu. Ein Gast übersetzt die deutschen Worte auf Englisch. Chaim Lazarus (62) ist bereits zum dritten Mal in Lübbecke, für Sohn Ariel ist es der zweite Besuch. Dieses Mal sind auch Ariels Frau Yamit und sein Sohn Uri mitgekommen, eine Tante und eine Cousine. Sie essen mit den Lübbeckern Hühnersuppe, sprechen über Geschichte, Tel Aviv, Lübbecke und Musik.
Zum Empfang sind auch Mitglieder des ehemaligen Arbeitskreises zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Lübbecke gekommen. "Es ist sehr großartig, bei unseren Freunden zu sein", sagt Ariel Lazarus nach seinem Auftritt mit der Gitarre. "So viel wusste ich vor dem Besuch gar nicht über meine Familie." Vorbehalte gegenüber Deutschland haben die Gäste nicht.
"Ich bin froh, wenn ich mit meiner Familie und mit meiner Musik hier Freundschaft schließen kann", sagt Ariel. Heute wird er mit seinem Vater Chaim Lazarus den Schülern des Wittekind-Gymnasiums von der Familiengeschichte erzählen. Hat er den Lübbeckern verziehen? "Ich denke nicht in solchen Begriffen", sagt der Israeli mit einem offenen Lächeln. "Heute haben wir die dritte Generation nach der Shoa mitgebracht. Wie kann ich noch jemanden persönlich verantwortlich machen?"
Nach dem Empfang besuchen die jüdischen Gäste die Stätten der Erinnerung in Lübbecke. Pfarrer Eberhard Helling pilgert mit der Familie zum Platz der ehemaligen Synagoge an der Langen Straße und zeigt den Besuchern die Namen der jüdischen Gemeindemitglieder auf dem Denkmal. "Lazarus", steht dort in Stein geritzt. Die Gäste bedienen ihre Digitalkameras.
Ariel Lazarus nimmt seinen Sohn Uri aus dem Kinderwagen. Der drei Monate alte Säugling lacht unter der Lübecker Frühlingssonne. "Schalom", sagt der Besucher zum Abschied. "Frieden".