Wenn Menschen die Kontrolle über ihre Gefühle verlieren

Lübbecke. "Mir ging es einfach schlecht", erzählt Annika (Name von der Redaktion geändert). Ihr Gesicht ist starr. Sie blinzelt wenig. Ihre Bewegungen sind langsam und bedacht. "Es gab Phasen, da saß ich tagelang antriebslos auf dem Bett und habe in die Gegend geguckt", erklärt sie. Die Stimmungsschwankungen begannen kurz nach dem Tod ihres Vaters. Als dann auch noch die Mutter ins Altenheim kam und die Schwester zum Partner zog, geriet die 56-Jährige in einen Zustand der Überforderung. Das große Haus, indem sie alle vorher zusammen gewohnt hatten, die Trauer und schwierige Familienverhältnisse - das alles wurde ihr zu viel. Sie wurde zwangseingewiesen Ihr Verhalten war auffällig. Nachbarn und Bekannte wurden aufmerksam. "Irgendwer hatte mich angezeigt", sagt sie. Alleine wohnen ging nicht mehr. "Dann stellte mir das Gericht einen gesetzlicher Betreuer zur Seite, mit dem ich auf Wohnungssuche ging", sagt Annika. Nachdem sie aber drei Wohnungen besichtigt hatten, die ihr alle nicht gefielen, eskalierte die Situation. Sie mied den Kontakt zum Betreuer, verbarrikadierte sich im Haus, bis sie von der Polizei abgeholt und zwangseingewiesen werden musste. "Dort bekam ich Psychopharmaka und sollte so ruhig gestellt werden", so Annika weiter. "Aber die Medikamente machten es nur noch schlimmer." Auf dem Weihnachtsmarkt legte sie sich platt auf dem Boden und kam nicht mehr hoch Seitdem wohnt Annika in der Diakonischen Behindertenhilfe Bergheimat an der Schützenstraße 35, einer Einrichtung für Frauen mit psychischer Beeinträchtigung oder mit einer leichten geistigen Behinderung. "Das ist jetzt etwa fünf Jahre her", sagt sie heute. Jetzt gehe es ihr gut. Sie hat sich fest vorgenommen, bald wieder ihre Mutter im Altenheim zu besuchen. "Am Anfang benötigte Annika Zeit, sich an die neue Situation zu gewöhnen", erinnert sich die Einrichtungsleiterin Silke Schäfer. Eine ungewohnte Umgebung, neue Menschen und neue Medikamente sorgten bei Annika für wechselhafte Launen. "Manchmal saß sie stundenlang reglos auf einem Sessel und manchmal wurde sie auch aggressiv", sagt Schäfer. "Dann gab es Situationen, in denen sie sich einfach platt auf den Boden gelegt hatte und nicht mehr aufstehen wollte." "Wie auf dem Weihnachtsmarkt in Minden", ergänzt Annika. "Ich wollte da einfach nichts mehr, wollte nur liegen bleiben. Ich hatte keine Kontrolle mehr über meine Gefühle." Aber das Personal war dabei, sprach ihr gut zu und konnte ihr so auch zur Seite stehen, so Schäfer. Konzept der Bergheimat einmalig in der Umgebung Mit 18 Frauen mittleren Alters, die zurzeit in der Diakonischen Behindertenhilfe wohnen, ist die Einrichtung voll besetzt. "Wobei der Begriff Behindertenhilfe heutzutage nicht mehr so zutrifft", sagt die Einrichtungsleiterin. "Wir sagen vielmehr Eingliederungshilfe." Die Frauen, die zu uns kommen leiden an Depressionen, Schizophrenie, Persönlichkeitsstörungen oder anderen psychischen Erkrankungen. Die Entscheidung, dass nur Frauen in der Bergheimat leben, sei von den Frauen gewünscht und seit der Gründung vor über 50 Jahren konzeptionell festgelegt, so Schäfer. Dieses Konzept ermögliche den Bewohnerinnen eine leichtere Aufarbeitung traumatischer Erfahrungen. "Wir bieten ihnen einen Schutzraum, der speziell für sie ausgerichtet ist." In der direkten Betreuung arbeite kein Mann, so Schäfer. Damit erfülle das Haus eine Nische im Mühlenkreis. "Alle anderen Einrichtungen in der Umgebung für psychisch Kranke haben gemischte Gruppen. Damit kommt nicht jede Frau zurecht", sagt Schäfer. "Die Bergheimat ist keine Endstation" Viele der Frauen hätten ein ähnliches Schicksal hinter sich, wenn sie in die Einrichtung kommen, so Schäfer. "Sie wurden nicht verstanden, teilweise auch misshandelt oder zu etwas gezwungen, was sie nicht wollten, konnten es aber zum Teil nicht kommunizieren." Deshalb sei es wichtig, ihnen in der Bergheimat ein neues Zuhause zu geben. Ihnen das Gefühl von Familie zu vermitteln, sie wieder aufzubauen, aber auch eine gewisse Selbstständigkeit vermitteln. "Wir sind nicht die Endstation. Das Ziel ist es immer, dass die Bewohnerinnen so eigenständig wie möglich leben", sagt die Leiterin. Annika könnte bald soweit sein: Mittlerweile verträgt sie die Medikamente und sie wurde von den anderen Bewohnerinnen in den Heimbeirat gewählt. Durch die vielen Aktivitäten und die Eins-zu-Eins-Betreuung, hat sie ihre Balance wiedergefunden, sagt Schäfer. Eine neue Leidenschaft, die sie im Haus entwickeln konnte, ist das Stricken. "Am Anfang habe ich Stücke mit riesigen Löchern gestrickt, aber jetzt kann ich schon ganze Pullover stricken, die ich auch anziehe", sagt Annika. Sie lächelt ein wenig - eines der wenigen Male an diesem Tag.

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