Muss der Täter Deutschland verlassen? Experte sagt: „Wir schieben niemanden in den Tod ab“

Minden/Bad Oeynhausen. Der Tod von Philipos Tsanis hat für Debatten im Bundestag und NRW-Landtag gesorgt. Ein Flüchtling soll den 20-Jährigen im Kurpark angegriffen haben und sitzt in U-Haft. Diese Tat ist mitverantwortlich dafür, dass inzwischen auch der Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sich dafür ausgesprochen hat, Schwerstkriminelle und Gefährder auch in unsichere Länder wie Afghanistan und Syrien abzuschieben. Der Ulmer Anwalt Thomas Oberhäuser gilt als Experte im Migrationsrecht und hat auch straffällige Ausländer unter seinen Mandanten. Im MT-Interview spricht der 57-Jährige über die Forderungen, ordnet sie ein und erkennt eine Scheindebatte. Wie verfolgen Sie die Diskussion nach dem Tod von Philipos Tsanis? Erst einmal stellt sich mir die Frage: Was kann man alles verschärfen, um solch einen Angriff zu verhindern? Diese Straftaten passieren, sie sind extrem misslich und schädlich – die Opfer leiden, egal, welche Nationalität der Täter hat. Hier ist aus meiner Sicht entscheidender: Wie kann man in der Gesellschaft ein Klima entwickeln, in dem solche Taten möglichst nicht stattfinden? Und was geschieht, wenn so etwas passiert? Da muss man feststellen: Der Staat reagiert. Schnell und ohne unverständliche Nachsicht. Schon immer gab es Kriminalität unter Jugendlichen und diese Verfehlungen sanktioniert der Staat natürlich. Auch den Fall in Bad Oeynhausen arbeitet die Justiz in erster Linie strafrechtlich auf. Zu Recht. Der Staat muss auch in den Fällen, bei denen &bdquo;das Volk den Kopf“ des Täters fordert, verhältnismäßig reagieren. Der Täter wird wie jeder andere Täter seine angemessene Strafe erhalten und voraussichtlich mehrere Jahre im Gefängnis sitzen. Welche Rolle spielen die Politiker in der Debatte? Sie kochen dann gerne ihr eigenes Süppchen. Die Diskussion um Abschiebungen ist allerdings verfehlt. Der tatverdächtige Syrer wird nicht direkt abgeschoben. Selbst wenn klar wäre, dass er der Täter ist. Erst kommt ein Strafverfahren, an dessen Ende voraussichtlich ein Urteil steht. Wird er schuldig gesprochen, wird er aller Voraussicht nach zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Der Staat hat in solchen Fällen ein Strafverfolgungsinteresse, auch in Hinblick auf die Opfer und ihre Angehörigen. Man könnte bei einer Abschiebung ohnehin nicht sicherstellen, dass es im Herkunftsland zu einer Strafverfolgung oder Strafvollstreckung kommt. Nüchtern betrachtet ist die Debatte an den Haaren herbeigezogen und verfolgt in erster Linie das politische Ziel, Migration als Problem darzustellen. Aus Ihrer Sicht ist es eine Scheindebatte. Ist man bereits im Wahlkampfmodus, weil 2025 die Bundestagswahl ansteht? Natürlich. Berichte, in denen Ausländer als Täter angeführt werden, heizen die Debatte an, und die Politiker springen auf diesen Zug. Fehlverhalten von Ausländern führt zu einer gänzlich anderen Dynamik als das gleiche Verhalten Deutscher. Und bei allem gilt: Wir haben nie die Möglichkeit, im Vorfeld Straftaten zu verhindern. Es wäre schön, wenn das ginge. Der mutmaßliche Täter aus Bad Oeynhausen hatte zwar Verdachtsmomente gegen sich und war polizeibekannt, ist aber noch nicht straffällig in Erscheinung getreten. Da kann man nicht sagen, dass man etwas anderes mit ihm hätte machen müssen. Ganz unabhängig von der Staatsangehörigkeit. &bdquo;Diese Länder sind gefährlich und unsicher für fast alle dort Lebende“ Ich verstehe die Debatte anders. Ist die Forderung nicht eher die, dass man ausländische Schwerststraftäter nach einem rechtskräftigen Urteil direkt abschiebt? Bei sicheren Herkunftsländern, dazu zählt Syrien jetzt nicht, ist das bereits während der Haftzeit möglich. Genau das ist seit Jahrzehnten gängige Praxis. Jemand, der kein Aufenthaltsrecht hat, beispielsweise weil er ausgewiesen wurde und mindestens die Hälfte seiner Haftzeit verbüßt hat, kann und wird in aller Regel abgeschoben. Nur darf es kein Abschiebungsverbot geben – und das ist die Krux an Afghanistan und Syrien. Diese Länder sind gefährlich und unsicher für fast alle dort Lebende. Darf man jemanden, der in Deutschland straffällig geworden ist, in eine Situation bringen, wo seine elementaren Menschenrechte gefährdet werden? Manche meinen: ja. Wie ist Ihre Position? Der Staat hat bislang eine humane Grenze: die Menschenrechte. Wir schieben niemanden in den Tod, in Folter oder unmenschliche Behandlung ab – selbst, wenn er selbst unmenschlich gehandelt hat. Das ist eine Errungenschaft zivilisierter Gesellschaften, sie darf nicht nach Einzeltaten infrage gestellt werden. Über das alttestamentarische &bdquo;Auge um Auge, Zahn um Zahn“ sind wir doch hoffentlich längst hinaus. Jeder Mensch, auch der Straftäter, hat eine gewisse, unantastbare Würde. Das ist Grundkonsens in Europa und in den Menschenrechtskonventionen niedergelegt. Wenn Staaten das nicht achten wollen, können sie aus der Europäischen Union austreten wie Großbritannien. Kanzler Olaf Scholz ist inzwischen anderer Meinung. Er hat sich dafür ausgesprochen, Schwerstkriminelle und Gefährder auch in unsichere Länder wie Afghanistan und Syrien abzuschieben. &bdquo;Das Sicherheitsinteresse Deutschlands wiegt in solchen Fällen schwerer als das Schutzinteresse des Täters“, sagte er. Wie ist diese Aussage zu verstehen? Rein juristisch hat sie wenig Hand und Fuß – sie ist vor dem Hintergrund der Europäischen Menschenrechtskonvention schlicht falsch. Noch mal: Wir schicken niemanden sehenden Auges in den Tod. Das hatte der Kanzler in dem Augenblick sicher nicht im Blick. Alle bisher erschienen Artikel zum Tod des 20-jährigen Philipos finden Sie hier. Was müsste sich rein theoretisch ändern, damit Abschiebungen nach Syrien möglich wären? Dafür musste festgestellt werden, dass es in Syrien sichere Gebiete gibt und dorthin auch tatsächlich abgeschoben werden kann, ohne mit dem Präsidenten Baschar al-Assad kooperieren zu müssen. Die Lebenswirklichkeit ist aber auch, dass sich Umstände schnell ändern können. Es ist überaus schwer, sich von den realen Verhältnissen ein objektives Bild zu machen und hinreichend sicher prognostizieren zu können, was dem Menschen widerfahren könnte, der dorthin kommt. Man betreibt dabei immer Wahrscheinlichkeitsrechnen. &bdquo;Es gibt ein Problem, wenn sich kein Staat für ihn verantwortlich fühlt“ Es heißt auch, dass es keine diplomatischen Beziehungen mit Syrien oder Afghanistan gibt. Wozu sind die bei Abschiebungen notwendig? Der deutsche Staat muss sicherstellen, dass der Mensch in Empfang genommen wird und andocken kann, sonst kann er verelenden. Es gibt ein Problem, wenn sich kein Staat für ihn verantwortlich fühlt, selbst wenn er einen Rucksack mit Essen hat und Geld zugesteckt bekommt. In Minden hat 2017 ein Flüchtling aus Guinea eine 16-jährige Schülerin in der Innenstadt vergewaltigt. Das Bielefelder Landgericht verurteilte ihn zu fünf Jahren Haft, noch im Gefängnis soll er nach Afrika abgeschoben worden sein. Was passiert Ihrer Erfahrung nach im Anschluss mit solchen Menschen in ihrer Heimat? Fast niemand kommt wegen einer Verurteilung in Deutschland im Heimatland noch einmal in den Knast. Deutschland kann auch keinen Einfluss darauf nehmen. Es kommt allerdings gelegentlich vor, dass beispielsweise Drogendelikte im Iran nochmals – heftig – bestraft werden. Die dorthin abgeschobenen Täter werden dort ein zweites Mal verurteilt und müssen erneut einsitzen. Generell gilt: Die Staatsanwaltschaft muss zustimmen, wenn jemand aus dem Gefängnis heraus abgeschoben wird. Kommen wir auf den Fall von Bad Oeynhausen zurück. Was passiert mit dem mutmaßlichen Täter, wenn er seine Haftstrafe verbüßt hat und sich nichts an dem Abschiebungsstopp nach Syrien ändert? Anders als deutsche Kriminelle kann er seinen Namen für einen Neuanfang nicht einfach ändern. Momentan hat er wohl ein Aufenthaltsrecht, das ihm vor der U-Haft Freizügigkeit in Deutschland ermöglicht hat. Dieses Recht wird in dem Augenblick gefährdet, in dem er eine Straftat begeht. Es erlischt, wenn er ausgewiesen wird. Dann duldet ihn der Staat lediglich und verfügt in der Regel eine Wohnsitznahmeverpflichtung. Der Betroffene muss sich dann dort aufhalten, in der Regel dort, wo er vor der Haft wohnhaft war, und kann nicht einfach umziehen, schon weil keine andere Kommune einen Straftäter aufnehmen will. Das ist ein Problem: Er landet dann wieder da, wo er die Straftat begangen hat. Das ist einigermaßen absurd. Viele in seinem Umfeld wissen, was er gemacht hat – eine Resozialisierung ist erschwert, oftmals sogar ausgeschlossen. Und eventuelle Opfer bzw. deren Angehörige begegnen ihm regelmäßig. Dadurch entsteht ein Pulverfass, das gerade in ländlichen Gegenden für alle Seiten äußerst kritisch ist.

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