"Machen Sie Ärger!": Die Kita-Katastrophe und der Normalzustand in Bad Oeynhausen

Bad Oeynhausen. Eigentlich lesen Journalisten den Politikern die Leviten. Dennis Maelzer macht das andersrum. Der kinder- und jugendpolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion fordert beim dritten Bürgerempfang der Kurstadt-Sozialdemokraten vor etwa 100 Zuhörern Journalisten und Öffentlichkeit dazu auf, den Kitas im Land mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Es fehlten Hunderttausende Plätze und Personal und außerdem würden Erzieherinnen nicht angemessen bezahlt. Steuert das Land auf die Kita-Katastrophe zu, fragt die SPD. Maelzer findet: nein, aber nur, wenn jetzt etwas passiert. Während der Coronakrise hätten Zeitungen Kitas vor allem als mgöliche Infektionsherde betrachtet. Nun sei die Aufmerksamkeit abgeebbt, bemerkt der SPD-Politiker. Seine Rede gipfelt in einer Empfehlung an Eltern und Kita-Verantwortliche: "Machen Sie Ärger! Das Geld fließt dahin, wo der Ärger ist." Die Gastgeber des Empfangs, SPD-Stadtverbandsvorsitzender Gerhard Beckmann und Fraktionschef Olaf Winkelmann, sehen das frühkindliche Bildungssystem am Rand der Erschöpfung. Das Angebot der Kindertagesstätten (Kita) und Offenen Ganztagsschulen (OGS) unterscheide sich landesweit stark nach Wohnort und Familie. Die Stadt Bad Oeynhausen ist aber offenbar gut aufgestellt. Das finden zumindest Marion Gärtner, Fachbereichsleiterin der Johanniter, Doris Neuhaus, Kita-Leiterin der Initiative für Arbeit und Schule (IFAS) und der Beigeordnete für Bürgerdienste Stefan Tödtmann bei einer Podiumsdiskussion. Tödtmann sieht die Kurstadt dagegen weit weg von der Katastrophe und "nahe an der Bedarfsdeckung". Er berichtet aber auch von derzeit 60 fehlenden Kita-Plätzen. Die Lücke ist durch Flüchtlingskinder entstanden, die einen Kita-Platz in der Kurstadt suchen. Tödtmann verweist aber auch auf die Neubauten des Roten Kreuzes und der Johanniter. Letztere wollen am Mittwoch den Bau mit dem ersten Spatenstich beginnen. Für Unter-Dreijährige-Kinder (U3) sucht die Stadt derzeit noch ein geeignetes Grundstück für einen Neubau. Der Bedarf nach Kita- und OGS-Plätzen steigt In den OGSen der Stadt sind derzeit 1.141 Kinder angemeldet, was etwa 60 Prozent aller Grundschulkindern entspricht. Mittel- und langfristig wolle die Verwaltung aber für 75 bis 90 Prozent der Grundschüler OGS-Plätze anbieten, weil der Bedarf steigt. Tödtmann: "Bisher haben alle, die möchten, auch einen Platz in der OGS bekommen." Moderator und NW-Redakteur Jörg Stuke will es genauer wissen. Wie geht die Verwaltung mit dem Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz um? Hat die Stadt vorgesorgt? Tödtmann ist zuversichtlich: "Baulich kriegen wir das hin." Bad Oeynhausen habe in den vergangenen Jahren - anders als ursprünglich mal gedacht - keinen Grundschulstandort geschlossen. "Das wird uns zu Gute kommen." Doris Neuhaus von der IFAS ist ein bisschen vorsichtiger: "Bis jetzt haben wir jedem Kind einen Platz anbieten können. In Zukunft wird das aber eng." Nicht nur die Versorgung mit Mittagessen ist eine Herausforderung für Kitas und OGSen. Es fehlt am Geld und am Personal. Laut SPD-Politiker Dennis Maelzer steckt die öffentliche Hand in NRW etwa sieben Milliarden Euro jährlich in die frühkindliche Bildung. 430 Millionen Euro davon stammen vom Bund. Den Rest teilen sich Land NRW und die Kommunen. Der Zuschuss vom Land beträgt für einen neuen Kita-Platz rund 33.000 Euro. "Davon können Sie aber keine Kita bauen", sagt Tödtmann. Vor allem nicht mit neuester Lüftungstechnik und angesichts der immensen Baukostensteigerungen. Die Stadt übernimmt deshalb für die beiden Kita-Neubauten des Roten Kreuzes und der Johanniter eine Ausfallbürgschaft für die ungedeckten Kosten. Die Johanniter wollen bis zum Herbst 71 weitere Kita-Plätze bauen. Im schlimmsten Fall könnten ein Kita-Platz bis zu 42.000 Euro verschlingen. Und von diesem Geld ist noch keine Erzieherin beschäftigt, kein Essen gekauft und die Kita nicht mit Strom, Wasser und Wärme versorgt. Forderung: Beitragsfreiheit für Eltern In der Stadt Bad Bad Oeynhausen gibt es 21 Kitas, drei davon werden von der Stadtverwaltung betrieben. Das bedeutet für die Erzieherinnen unterschiedliche Bezahlung. Für die Elternbeiträge gilt dagegen eine stadtweite Satzung und gestaffelte Elternbeiträge. Diese Gebühren sind landesweit aber sehr unterschiedlich verteilt, wie Dennis Maelzer berichtet. "Meist sind die Kitas in armen Städte auch noch besonders teuer." Marion Gärtner von den Johannitern fordert deshalb die Beitragsfreiheit für Kita-Kind. Ein Vorschlag, dem sich das ganze Podium anschließt. Dennis Maelzer bringt das auf den Punkt: "Von der öffentlichen Hand muss mehr Geld kommen." Maelzer ist es auch, der auf einen grundsätzlichen Webfehler im deutschen Bildungssystem verweist. Während Erzieherinnen in ihrer Ausbildung meist kein Gehalt bekommen, steigen die Gehälter in Deutschland mit den Bildungsabschlüssen. Die Gehaltspyramide steht auf dem Kopf, findet Maelzer. Gerade frühkindliche Bildung entscheide aber über die Zukunftschancen eines Kindes. Das hätten Studien immer wieder bestätigt. Deshalb müssten Erzieherinnen deutlich mehr Geld bekommen. Diesen Punkt greift auch ein Kommentar aus dem Publikum auf. Jürgen Vortherms verweist darauf, dass das Gesundheitssystem die gleichen Personalschwierigkeiten hat und derzeit die Weichen dafür gestellt werden, dass deutlich mehr Geld beispielsweise für Pflegekräfte gezahlt wird, weil 2035 bis zu 3,8 Millionen Pflegekräfte fehlen. "Das Ganze ist ein Wettlauf um die Köpfe!"

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