Gesundheit

Chaos im Kopf: Wie eine Familie aus Lippe mit der Doppel-Diagnose ADHS umgeht

ADHS in der Familie: Bei Marie erhielten erst die Tochter, dann sie selbst die Diagnose. Nun will die Lipperin andere Betroffene vernetzen und unterstützen.

ADHS stellt Familienmitglieder vor große Herausforderungen -gerade wenn sowohl Kinder als auch Elternteile betroffen sind. Eine Lipperin will anderen Mut machen. | © Pixabay

16.06.2025 | 16.06.2025, 14:17

Kreis Lippe. Lange hat Marie (Name geändert) damit gehadert, was mit ihr nicht stimmt. Weshalb ihr Leben immer wieder aus den Fugen geriet. „Ich war mein Leben lang auffällig und nicht funktionierend“, sagt die 42-Jährige heute. Erst vor drei Jahren erhielt die zweifache Mutter endlich Klarheit. Kurz nachdem es bei ihrer damals sechsjährigen Tochter selbst diagnostiziert wurde: Beide, Mutter und Kind, sind von ADHS betroffen – einer sogenannten Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Nun will die Lipperin Betroffene zusammenbringen.

Bis dahin war es ein langer Leidensweg, der Marie ab dem 13. Lebensjahr in psychiatrische Behandlung brachte. Es folgten diverse Folgestörungen und Fehldiagnosen, falsche Medikamente, Aufenthalte in der Psychiatrie, sagt Marie. „Das hat mich komplett daran gehindert, mein vorhandenes Potenzial zu leben.“ Wenn ADHS unbehandelt bleibe, könne es häufig schwere Folgeprobleme auslösen. Darunter: Depressionen, Burn out, Substanzmissbrauch und Essstörungen.

Dass ihre eigene Tochter auffällig ist, hatte Marie schon früh bemerkt. „Sie war so irritierbar – selbst im Stillalter.“ Das Baby außerhalb des Hauses an die Brust zu legen, sei unmöglich gewesen. Die Konzentrationsprobleme wurden stärker, die Frustrationstoleranz weniger. Heute gibt es Tage, da schafft es die inzwischen Zehnjährige kaum, selbst zu essen oder sich anzuziehen, erklärt die Mutter. Ein Kraftakt für die ganze Familie. „Sie findet dann alles interessanter, als bei ihrer Socke zu bleiben.“

ADHS als eine der häufigsten psychischen Auffälligkeiten

Laut Bundesministerium für Gesundheit gilt ADHS als eine der häufigsten psychischen Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen, die auch im Erwachsenenalter bestehen bleiben kann. Etwa zwei bis sechs Prozent aller jungen Menschen leiden an „krankhaften Störungen der Aufmerksamkeit und an motorischer Unruhe“, heißt es. Wie stark sich ADHS auswirkt, ist dabei ganz individuell.

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Bei Maries Tochter ist der Leidensdruck besonders groß. In der Schule hat das Kind deshalb eine Integrationskraft an die Seite bekommen. Die unterstützt sie, den Fokus zu behalten. „Ohne diese Hilfe könnte meine Tochter nicht dem Unterricht folgen“, sagt Marie. Durch die inzwischen gut eingestellten Medikamente und die unterstützenden Angebote von außen mache das Mädchen große Fortschritte beim Bewältigen des Alltags.

Der Weg dahin sei nicht leicht gewesen. Hinter der Diagnostik verberge sich ein kräftezehrender Prozess – auch für Erwachsene. „Niemand nimmt diesen Kampf auf sich ohne Leidensdruck“, sagt Marie. Letztendlich die richtige Medikation zu finden, habe sich ebenfalls sehr lang hingezogen.

ADHS-Diagnose verlangt viel ab

Was Tabletten angeht, gebe es auch skeptische Positionen, weiß die Mutter. Viel Kritik beruht ihrer Einschätzung nach auf Vorurteilen. Es gehe nicht darum, sein Kind „ruhig zu stellen.“ Die Medikamente wirkten eher wie eine Brille, die ihrer Tochter dabei helfen würden, klarer und zielgerichteter zu denken. Ob diese zusätzlich zu einer (verhaltens-)therapeutischen Behandlung nötig seien, hänge vom Schweregrad ab.

Genauso sieht es auch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) auf seinem Gesundheitsinformationsportal. „Medikamente kommen vor allem für Kinder mit einer ausgeprägten ADHS infrage“, heißt es dort. „ADHS-Medikamente sollten immer im Rahmen einer umfassenden Behandlung eingesetzt werden, die auch pädagogische, soziale und psychotherapeutische Maßnahmen beinhaltet.“

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Diesen Weg geht Marie auch mit ihrer Tochter, die mit zehn Jahren manchmal so wirkt wie mit sechs, so beschreibt es die Mutter. Die Erkenntnis, dass ihr Kind durch ADHS entwicklungsverzögert ist und einfach nicht anders kann, war entscheidend. Unverständnis von außen gebe es dennoch. Marie belasten daher Phrasen wie „Mach doch einfach“ umso mehr. Sie kennt solche Situationen auch als Erwachsene gut, wenn sie sich beispielsweise wie paralysiert nicht entscheiden kann. „Man ist ja selbst von sich genervt, aber man kann es nicht ändern.“

Scheitern am Schreibtisch: Viele Menschen mit ADHS haben ein Problem mit Organisation und Terminen. - © picture alliance/dpa
Scheitern am Schreibtisch: Viele Menschen mit ADHS haben ein Problem mit Organisation und Terminen. | © picture alliance/dpa

Anspruchsvoller Alltag der Lipperin

Seit der Diagnose ihrer eigenen Störung etwa ein Jahr nach der ihrer Tochter hat Marie gelernt, besser mit ihren Schwächen umzugehen. Oft genug stehe sie wie bewegungsunfähig vor Alltagsaufgaben. „Früher dachte ich, ich kriege Aufgaben einfach nicht hin“, sagt die Lipperin. „Ich konnte mich nicht darauf verlassen, dass ich meine Fähigkeiten abrufen kann.“ Selbst ein wenig Unordnung sei ihr schnell wie ein unüberwindbarer Berg vorgekommen, vor dem nicht einmal der erste Schritt gelang. Dabei liegt das Chaos vor allem im Kopf.

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In solchen Situationen prasselten zu viele Reize auf sie ein: „Als würden dicke Brummer immer wieder an die Fensterscheiben klopfen.“ Ähnlich fühle sich ihr Kopf manchmal an, als würde etwas kontinuierlich auf ihre Gedanken einschlagen. Seitdem sie weiß, woher ihre Probleme kommen, geht es Marie besser. Sie kann jetzt eher einschätzen, was bei sich und ihrer Tochter los ist.

Für eine Mutter, die selbst von ADHS betroffen ist, gestaltet sich der Alltag mit einem betroffenen Kind besonders anspruchsvoll. Dass ihre Familie mit der Situation nicht allein ist, weiß Marie sehr gut. Da ADHS zu 80 Prozent vererbbar sei, könne es nicht selten mehrere Familienmitglieder treffen.

Lipperin will ADHS-Betroffene zum Austausch finden

Weil die Bedürfnisse und Belastungen in solchen Fällen auf verschiedenen Ebenen spielen, will Marie die erste ADHS-Selbsthilfegruppe für Lippe gründen, die sich an selbst betroffene Eltern von Kindern richtet, die von ADHS betroffen sind. Seit zweieinhalb Jahren bringt Marie bereits der Austausch mit anderen in Detmold weiter. Die neue Gruppe soll jetzt konkret auf den Alltag eingehen und dabei helfen, passende Hilfen zu bekommen.

„Es wär schön, wenn wir gemeinsam Impulse setzen und Strategien entwickeln, wie wir in überfordernden Situationen handlungsfähig bleiben“, sagt Marie. Sie selbst weiß, wie anstrengend der Alltag sein kann. Auch bei ihrem kleinen Sohn besteht ADHS-Verdacht. Vor dem Ergebnis der Diagnostik scheut sich die Mutter nicht. Dafür hätten ihre Tochter und sie selbst zu große Fortschritte gemacht. „Das war es alles wert“, sagt sie. „Vorher war es nicht aushaltbar.“

INFORMATION


Kontakt aufnehmen

Wer sich angesprochen fühlt und Interesse hat, an der Selbsthilfegruppe „ADHS-Familie“ teilzunehmen, kann sich bei der Selbsthilfe-Kontaktstelle beim Paritätischen Wohlfahrtsverband unter Tel. (05231) 561260 oder per E-Mail an selbsthilfe-lippe@paritaet-nrw.org melden. Die Sprechzeiten sind montags bis mittwochs von 10 bis 13 Uhr sowie donnerstags von 10 bis 17 Uhr.