Chefarzt am Klinikum Lippe fürchtet baldigen Kollaps bei der Notfallversorgung

Kreis Lippe. Wenn er die Altersstruktur der Ärztinnen und Ärzte im Kreis Lippe anschaut, wird Daniel Fischer angst und bange. Der Chefarzt der Notaufnahme am Klinikum Lippe fürchtet, dass die ambulante medizinische Notfallversorgung in den nächsten fünf Jahren in Lippe kollabieren könnte. Die ambulante Versorgung 24/7 sei an sich zwar Sache der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe, ergo der niedergelassenen Ärzte. Doch nicht zuletzt, weil es davon vor allem aus Altersgründen immer weniger gibt, ist immer häufiger die Notaufnahme im Klinikum Anlaufstelle der Patienten. Fischer und seine Kollegen arbeiten am Limit – und die Situation, prophezeit Fischer, werde sich noch deutlich verschlimmern. Patienten stringent steuern In Ruhestand gehende niedergelassene Ärzte ohne Nachfolger auf der einen Seite und damit verbundene Mehrarbeit und sich verschärfende Personalknappheit in den Kliniken auf der anderen Seite – der 49-jährige Notfallmediziner ist sich sicher, dass diese Konstellation relativ kurzfristig zu weiteren Engpässen führen wird. Es sei denn, man steuert gegen. Medizinischer Nachwuchs wird sich auf die Schnelle im großen Stil nicht akquirieren lassen. Deshalb dreht Fischer an einer anderen Stellschraube. Er setzt sich für eine stringente Patientensteuerung ein. Kurz gesagt: Künftig sollte nicht der Patient entscheiden, mit welchem gesundheitlichen Problem er welchen Arzt aufsucht, sondern eine vorgeschaltete Patientenservice-Stelle. Und zwar verbindlich. Fischer erläutert den aus seiner Sicht schlechten Ist-Zustand: &bdquo;Heute ruft ein Patient zum Beispiel die 116117 an und ihm wird geraten, zum Haus- oder Facharzt zu gehen. Ob er das wirklich tut, wird nicht kontrolliert. Er kann zu mehreren Ärzten gehen. Und auch wenn er einen Termin nicht wahrnimmt, hat das meist keine Konsequenzen.“ Wie es anders funktionieren kann, deutlich effizienter und dabei ressourcensparend, verrate ein Blick nach Niederösterreich. Dort seien die Patienten im System sichtbar. Wer die zentrale Nummer für den Patientenservice anrufe, erhalte auf Basis eines Fragenkatalogs eine medizinische Ersteinschätzung und werde dann gezielt durch das Gesundheitssystem geleitet. Medizinisches Personal hinderlich Sitzt medizinisches Personal am anderen Ende der Leitung? &bdquo;Nein, ganz im Gegenteil – das sind Mitarbeiter, die keine medizinische Vorbildung haben müssen“, erläutert Fischer. Man habe festgestellt, dass das sogar besser sei, um eine Ersteinschätzung völlig unbefangen zu treffen. Der Patientenservice kümmert sich des Weiteren darum, was der Patient nach der Erstdiagnose benötigt: einen Termin beim Haus- oder Facharzt oder in der Klinik, zum Beispiel. Im System ist der Patient fortan mit seinen Daten hinterlegt. Eigenmächtig könne daher niemand entscheiden, in wessen Behandlung er sich wann begebe. Dadurch würden Doppelbehandlungen ebenso vermieden wie Patienten, die versehentlich beim falschen Facharzt oder in der Notaufnahme landeten: &bdquo;Solche Patienten können wir uns aufgrund von mangelnden Ressourcen nicht mehr leisten – das ist schon heute das große Problem“, ist Fischer überzeugt. Seit Anfang 2020 ist der 49-jährige Chefarzt der Notaufnahmen am Klinikum Lippe; er ist einer, der kein Blatt vor den Mund nimmt: &bdquo;Wir in der Notaufnahme sind die letzte Wiese’“, sagt er. Will heißen: Wenn die Portalpraxen nach 22 Uhr geschlossen haben, wenn ein Patient bei seinem Haus- oder Facharzt keinen schnellen Termin bekommt, wenn der Hausarzt feststellt, dass der Patient notfallmäßig in die Klinik muss oder wenn der Patient selbst verunsichert ist – immer dann landen die Patienten in der Notaufnahme. Sogar der Rettungsdienst fahre im Zweifel die Notaufnahme an, selbst wenn eine ambulante Vorstellung beim Hausarzt ausreichen würde. Denn immer häufiger würden die Notfallsanitäter zu sogenannten &bdquo;Versorgungsfällen“ gerufen, erklärt Fischer. Aus medizinischer Sicht ergäbe sich in jenen Fällen zwar keine Indikation für eine Krankenhausaufnahme. Trotzdem landeten diese Patienten häufig in der Notaufnahme – weil sie zu Hause nicht mehr alleine zurechtkämen. Patienten verstopfen Notaufnahme Häufig zu Unrecht verstopfen all jene Patienten die Notaufnahme, die an sich &bdquo;echten Notfällen“ vorbehalten sein sollte: Und das eben nicht nur in den späten Abendstunden oder am Wochenende, sondern auch während der regulären Sprechstundenzeiten der Arztpraxen. Laut einer Erhebung sind es im Durchschnitt drei Patienten pro Stunde, die statt eines niedergelassenen Kassenarztes die Notaufnahme aufsuchen. Im Jahr sind das 34.000 ambulant durch die Notaufnahmen versorgte Patienten. Der &bdquo;Leuchtturm Notaufnahme“ biete einen niederschwelligen Zugang, ohne vorher mühsam eine Praxis anrufen zu müssen. Fischer ist überzeugt: &bdquo;Wenn es diesen Leuchtturm nicht gebe, müsste die KV in der ambulanten Notfallversorgung anders agieren.“ Die Situation ist unbefriedigend – für die Kollegen in der Notaufnahme wie auch für die Patienten. Denn die Folge dieses bis zum Rand gefüllten Sammelbeckens an Patienten mit unterschiedlicher Erkrankung und Dringlichkeit sind lange Wartezeiten sowie Diagnosen und Behandlungen, die dem Patienten selbst nicht immer verständlich sind. Fischer weiß das und sagt ganz offen: &bdquo;Wir benötigen eine patientenzentrierte Notfallversorgung – wir als Ärzte entscheiden, ob es sich um einen Notfall handelt und was der Patient benötigt – nicht der Patient!“ Die ständige Kritik an der Notaufnahme und den dortigen Bedingungen sei er leid, betont der Mediziner und stellt die Problematik aus seiner und der Sicht der Mitarbeiter dar: &bdquo;Wir sind keine Notfallambulanz, der Begriff ist schlichtweg falsch. Die Kassenärztliche Vereinigung ist schließlich für die ambulante Notfallversorgung 24/7 zuständig.“ Doch die komme ihrem gesetzlichen Auftrag eben nicht vollumfänglich nach. Ausbaden müsse dies dann die Notaufnahme, deren Aufgabe das jedoch nur bedingt sei: &bdquo;Wir haben festzustellen, ob jemand ambulant oder stationär behandelt werden muss und leiten die Ersttherapie ein. Bei ambulanten Notfallpatienten sollen wir eigentlich nur überbrücken, bis der Hausarzt wieder geöffnet hat. Mehr nicht.“ Dennoch lehne die Notaufnahme keinen Patienten ab, das sei die Linie des Klinikums Lippe und darüber gebe es eine Dienstanweisung. Allein aufgrund der Tatsache, dass es in Lippe nur ein Krankenhaus gibt, würde das Klinikum selbst bei Überfüllung keine Patientenaufnahme verweigern. &bdquo;Aber all die Behandlungen fressen Ressourcen“, verdeutlicht Fischer. Schließlich werde jeder Patient eingehend untersucht, inklusive EKG und Blutabnahme – allein das koste 20 Minuten. Zuvor aber werden die Patienten ersteingeschätzt – je nach Schweregrad in fünf Kategorien sortiert. Da kann es schon mal vorkommen, dass einer mit einem Zeckenbiss fünf Stunden warten muss und dann womöglich kein Medikament verabreicht bekommt, weil der Arzt es nicht für medizinisch notwendig hält. Oder jemand ohne Essen stundenlang im Warteraum ausharren muss: &bdquo;Aber dafür sind wir logistisch nicht ausgelegt – die Notaufnahme kann kein Essen servieren“, unterstreicht Fischer. Internet verschlechtert Gesundheitskompetenz Frustrierte Patienten, frustrierte Ärzte und Pflegekräfte – und kein Ende in Sicht? Daniel Fischer wünscht sich, dass Vertreter der niedergelassenen Ärzte, des Klinikums, der Alten- und Kurzzeitpflege und des Rettungsdienstes sowie andere Beteiligte an einem Tisch nach Lösungen suchen. Er selbst hat neben der stringenten Patientensteuerung weitere konkrete Ideen. Dazu zähle die Steigerung der Gesundheitskompetenz innerhalb der Bevölkerung. Denn es sei ein Irrglaube, dass sich durch Informationen im Internet das Wissen über Symptome und Krankheiten verbessert habe – das Gegenteil sei der Fall, es würden Fehlinformationen verbreitet und Angst geschürt. Hinzu kämen Patienten mit Migrationshintergrund, die die Notaufnahme aus schierer Unwissenheit aufsuchten: &bdquo;In deren Herkunftsländern gibt es so etwas wie ein Hausarztsystem gar nicht.“ Eine Gesundheitsleitstelle nach dem Vorbild der Österreicher und Gesundheitslotsen, die Patienten durch das zum Teil verwirrende System führten, seien Schritte, um die Lage zu verbessern. Es müsse dringend etwas passieren: &bdquo;So weitergehen kann es jedenfalls nicht. Die Unterversorgung ist absehbar.“

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