Oerlinghausen/Bielefeld

Statist schiebt Kaktus für Orlando

REPORTAGE: Einsatz vor und hinter der Bühne bei der Opern-Uraufführung am Bielefelder Stadttheater

Melanie Kreuter, Daniel Pataky, Christiane Linke und Schauspieler Omar El-Saeidi (v. l.) in einer düsteren Szene im zweiten Akt der Oper "Orlando". | © FOTOS: MATTHIAS STUTTE

18.06.2013 | 18.06.2013, 00:00

Oerlinghausen/Bielefeld. Daniel Pataky sitzt in seiner Rolle als Elisabeth auf der Bielefelder Stadttheaterbühne in einem majestätischen Gewand auf einer mannsgroßen Kaffeekanne. Der Opernchor schaut voller Ehrfurcht zu Elisabeth auf. Dann nähert er sich ihr singend. Das ist das Zeichen für vier Statisten: Sie bilden vor der Kanne eine schützende Kette gegen die euphorische Masse. Ich bin einer dieser Statisten.

Bis diese Szene bei der OpernUraufführung von "Orlando" gespielt wird, erleben die Statisten eine spannende Probenzeit mit. Vor der "Orlando"-Statistenzeit steht ein Castingtermin. Was wird dort verlangt werden? Die Antwort bekomme ich an einem Maivormittag bei einer der Probebühnen.

Information

Modernes Musiktheatererlebnis

"Orlando" ist eine Opern-Uraufführung in drei Teilen von den Komponisten Vito Žuraj, Martin Grütter und Michael Langemann. Die drei Akte nähern sich der Figur Orlando unterschiedlich an.

Stipendiaten der "Akademie Musiktheater heute" der Deutsche Bank Stiftung haben "Orlando" im Kollektiv erarbeitet, kreiert und inszeniert. Zur Musik der Bielefelder Philharmoniker singen Solisten des Bielefelder Theaters mit dem Opernchor und es tanzen Schülerinnen und Schüler der Theaterballettschule Maria Haus.

Weitere Vorstellungen im Bielefelder Stadttheater: 19. Juni (20 Uhr), 22. Juni (19.30 Uhr), 5. Juli (20 Uhr), 7. Juli (19.30 Uhr) und 14. Juli (15 Uhr).(cs)

Das Inszenierungsteam und Statisterieleiter Thomas J. Scharf sitzen an Tischen mit Blick zur Bühne. Dort stehen die Gegenstände des Bühnenbildes: "Eine Kaffeekanne, ein Kaktus, hinten das Zahnrad", erklärt Regisseur Christian Grammel. Mich erinnern die riesigen, bunten Objekte ein wenig an Alice im Wunderland. "Wir haben uns einige Aufgaben überlegt", sagt Regisseurin Bettina Geyer. Gemeinsam sollen wir die Kaffeekanne zu ihrer Position verschieben.

"Und jetzt stellt Euch vor, hier vorne wäre Michael Jackson und Ihr rennt jubelnd zu einem Konzert", erklärt Christian Grammel. Wir jubeln und laufen, spielen schließlich Entsetzen neben einer auf dem Bauch liegenden Orlando-Puppe. Mein Jubel und mein Entsetzen scheinen den Anforderungen zu genügen, ich bin als Statist dabei. Die erste Statistenprobe ist eine sogenannte Trockenübung. Wir gehen die Bühnenwege ab. Deniz Kalelioglu, Patrick Kaminski, Ulrich Wiedermann und ich schieben ein Pferd von der Seite auf die Bühne – an diesem Tag ist das noch ein Tisch. Auch die Bodyguard-Szene wird geprobt: "Beim zweiten ‚Elisa‘ bricht der Chor dann zu Elisabeth durch", sagt Bettina Geyer. Wir lassen uns nach hinten fallen.

Auf der großen Bühne wird später mit den Solisten und dem Chor geübt, zuerst mit Klavierbegleitung. Vom hinteren Bühnenteil treten wir mit dem Chor auf, wenn das rote Lichtzeichen erlischt. Auf Bildschirmen ist bei den Bühnenorchesterproben der Dirigent im Orchestergraben zu sehen. Manchmal verstummt die Musik, und die Szene wird für den Feinschliff wiederholt: "Das ist ein Fest, Sie müssen die Objekte behutsam mit den weißen Hussen verhüllen", sagt Bettina Geyer. Wir helfen dabei.

Dann schieben wir, zuerst noch etwas holprig und scheppernd, die Kaffeekanne, auf der später Elisabeth sitzen wird. "Und jetzt bitte die ganze Szene als Durchlauf", weist Bettina Geyer an. Im zweiten Akt bringen wir die Gegenstände, die erst schweben, sachte auf ihre markierte Position. Timing und Reihenfolge werden geübt. Mit dem Chor stürmen wir zu einer Rakete ganz vorne. "Stellt Euch vor, das ist ein Wühltisch", sagt Christian Grammel. In Zeitlupe greifen alle ins Nichts. Dann heißt es "Abgehen nach links!" – und flott sein im Nebengang. Eine sich nach vorn bewegende, schwarze Wand bringt alle wieder in Bewegung. Mit ihr wird das Bühnenbild verschoben.

Für den dritten Akt tragen wir ab der Hauptprobe Barockkostüme mit bunten Kniestrümpfen und verzierten Hosen sowie gelockte Perücken. Das Gesicht ist bleich geschminkt. Beim Blick in das ungewohnte Spiegelbild in der Garderobe steigt meine Vorfreude auf die Auftritte. Und dann, nach einem hochspannenden, intensiven Probenmonat, ist Premierentag!

Vorne im Theater warten die Premierengäste, während es hinter der Bühne "toi, toi, toi" durch die Flure schallt. Letzte Absprachen. Die Beteiligten des ersten Akts werden eingerufen. Es ertönen die ersten Klänge der Ouvertüre durch die Lautsprecher. Im hinteren, verdeckten Teil der Bühne warten alle im Halbdunkeln in gespannter Ruhe. Dann erlischt das Lichtzeichen, der Chor hebt zum Gesang an: Auftritt. Nach zweieinhalb Stunden fährt der Vorhang zum Applaus hoch. Zusammen mit Ensemble und Chor gehen wir nach vorne, verbeugen uns lächelnd.

Nach dem Abschminken geht es zur Premierenfeier – Freude überall. Schon bald ist die nächste Vorstellung. Dann wird es im Stück wieder heißen "Nennen wir ihn Orlando!", die Tür in der schwarzen Wand öffnet sich, und wir sind noch mal ein kleiner Teil des Traumorts Theater. Und schieben Kaktus und Kaffeekanne.