Ein Sprachwissenschaftler erweckt die alte Natzunger Schule zu neuem Leben

Natzungen. Thomas Küster sitzt auf dem Schulhof. Auf einer alten Tischtennisplatte aus Beton. Die untergehende Sonne im Gesicht und im Rücken das Gebäude aus den 1920er Jahren, in das bald neues Leben einziehen soll. Naja, ein bisschen Leben ist schon wieder in der alten Volksschule. Dort wohnt, räumt, bastelt und renoviert der Mann, der gerade alles daran setzt, das ehrwürdige Haus wieder zu dem zu machen, was es einmal war: Ein Ort des Lehrens und Lernens. Rund 7,5 Millionen muttersprachliche Analphabeten gibt es in Deutschland. Diesem Missstand des Bildungssektors wirkt Thomas Küster mit vollem Einsatz entgegen. Die Buchstaben in die Welt hinaus tragen und die Zahl der Analphabeten senken, das ist die Mission des 42-Jährigen gebürtigen Detmolders. Nach dem Realschulabschluss machte er das Fachabitur, um dann unter anderem Betriebswirtschaftslehre und Psychologie zu studieren. Schließlich schloss er 2009 den Master in Alphabetisierung und Grundbildungswissenschaften ab und war fortan für Bundesprojekte im Rahmen der Bildungsdekade unterwegs. Außerdem betreute der Vater von zwei Kindern (Lisa, 16, und Gerôme, 10) das Projekte &bdquo;Alpha Unternehmen" der Uni Gießen, bei dem muttersprachliche Analphabeten an ihrem Arbeitsplatz fortgebildet werden. Das hat gleich zwei Vorteile. &bdquo;Zum einen profitieren die Arbeitnehmer: Ihnen wird nicht gekündigt. Zum anderen hat der Arbeitgeber den Vorteil der Bindung des Lerners ans Unternehmen und gleichzeitig eine Qualitätssicherung: Er weiß was seine Angestellten können und was nicht", sagt Küster, der als freischaffender Dozent und pädagogischer Mitarbeiter zudem viel in Volkshochschulen unterwegs war. Küster weiß, dass sich unter den Analphabeten nicht nur Menschen mit sozial-schwachem Hintergrund befinden: &bdquo;Da sind auch schon mal Leute aus Führungspositionen dabei", berichtet er. Solche Menschen entwickelten ein raffiniertes System, um durch die Schule und später durch den Alltag zu kommen. &bdquo;Man kommt zum Beispiel mit einem mittleren Notendurchschnitt durch die Realschule ohne richtig lesen und schreiben zu können", sagt Küster. Und irgendwann sei es dann zu spät und die Scham zu groß, um zu sagen: Ich lern das jetzt. Nach Auslaufen der Bundesprojekte begann Thomas Küster nach etwas Ausschau zu halten, an dem sich Leben und Arbeiten unter einem Dach vereinen lassen. Es musste ein Ort sein, der so ländlich liegt, dass sich Muttersprachler mit Defiziten im Lesen und Schreiben dorthin trauen. Aber dieser Ort musste auch verkehrsgünstig gelegen sein. &bdquo;An meinem Geburtstag habe ich dann durch Zufall die alte Schule in Natzungen entdeckt", erinnert sich der Sprachwissenschaftler. Das Wissen um den ICE-Anschluss des Bahnhofs in Warburg machte die Entscheidung für Thomas Küster und seine Frau Alexandra Pietzarka (43) dann noch einfacher. Kurze Zeit später stellten sie sich samt ihrem Konzept der Schulnutzung vor. &bdquo;Wir haben uns mit den Vereinen des Ortes getroffen und ihnen erklärt, was wir vor haben", so Küster. Ihr Konzept kam an. Sie durften die Schule erwerben. Das war im November 2014. Seitdem befinden sich Küster mit Ehefrau Alexandra und Tochter Lisa im Baustellen-Modus. &bdquo;Oben in der Wohnung wurde zunächst die gesamte Elektrik neu gemacht", sagt Küster. Die Wohnung habe zuerst fertig werden müssen, da seine Frau ihre Stelle als Psychologin in Bad Arolsen antreten wollte. &bdquo;Alex hat seit April 2015 Baustellen-Camping betrieben, ab September war ich dann auch hier", so Küster, der bis Ende August ein Projekt an der Uni Gießen betreute. Kaum eingezogen wurden die beiden auch schon von Ortsvorsteher Benedikt Dierkes angesprochen, ob sie nicht Interesse hätten beim Laientheater mitzumachen. &bdquo;Benedikt hat sicher gedacht: Der kann vor Leuten sprechen. Den frag ich mal", schmunzelt der Mann, der sich selbst als &bdquo;Buchstaben-Verkäufer" bezeichnet. In knapp einem Jahr haben die neuen Schulbewohner viel in Umzugskisten gesucht, vieles gefunden, aber vieles auch so gar nicht vermisst. &bdquo;Man stellt mit der Zeit fest: Dinge, die man nicht vermisst, die braucht man auch nicht", sagt Alexandra Pietzarka lachend. Die Schule bekam eine neue Heizung und ein Großteil der Elektrik wurde neu gemacht. Die vier Klassenräume und das Lehrerzimmer werden zum Teil ihrer alten Entsprechung nach genutzt werden, zum anderen plant Küster auch etwas Neues: &bdquo;In den beiden Klassenräumen des Erdgeschosses soll Unterricht stattfinden, der dritte wird eine gemütliche Leseecke bekommen, die zum Schmökern einlädt. Mit Kaffeemaschine und allem Drum und Dran", kündigt Küster an. Das ehemalige Lehrerzimmer werde zum Materialraum und ein Medienraum sei geplant, der auch als Besprechungsraum genutzt werden könne. Außerdem würden noch ein Büroraum, eine Teeküche und eine kleine Wohnung für Pädagogen, die an Fortbildungen teilnehmen, Stock entstehen. Und nach und nach würden die alten Fenster ersetzt und die Eingangstür saniert. Mit dem Unterricht soll es in diesem Jahr noch losgehen: &bdquo;Wir hoffen, dass wir im Spätsommer starten können", sagt Thomas Küster zuversichtlich. Bis dahin betreut er Flüchtlinge in der Zentralen Unterbringungseinrichtung in Borgentreich mit Deutschunterricht. Ganz nebenbei schreibt Küster an seiner Abschlussarbeit zum Integrationsmanager und an seiner Dissertation am Institut für Heil- und Sonderpädagogik der Uni Gießen.

Meistgelesen