Spenge. Auf der Aschebahn macht Annegret Hötger so schnell niemand etwas vor. "Eigentlich bin ich immer 15er-Zeiten gelaufen", sagt die 67-jährige Spengerin. In ihrer Altersklasse hervorragend. Hötger ist daher auch amtierende Deutsche Meisterin in der 4-mal-100-Meter-Staffel der Damen. Zuletzt jedoch hat sie auf ihrer Distanz einiges an Zeit eingebüßt. Daran Schuld: ein winzig kleiner Faden.
"In den letzten zwei Jahren hatte ich immer wieder Trainingsausfälle", sagt die Spengerin. "Dadurch bin ich langsamer geworden." Ein Faden, nicht mal halb so groß wie der kleine Fingernagel, wanderte durch ihren Körper und verursachte heftige Schmerzen. Das Corpus delicti war das Überbleibsel einer Operation, die fast 40 Jahre zurückliegt.
Damals, im August 1974, wurde Hötger an der Galle operiert. Der Eingriff verlief ohne Komplikationen. Erst danach begann für die Spengerin eine Leidensgeschichte, denn die Fäden wurden von ihrem Körper nicht aufgelöst.
Vier Wochen nach der OP habe sich ein Klumpen unter der Narbe gebildet, erinnert sich die 67-Jährige. Fadengranulom nennen das die Mediziner. "Eine Verteidigungsreaktion des Körpers", sagt Professor Norbert Senninger, Direktor der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie am Uniklinikum Münster.
Das Granulom aus Eiter und Gewebesaft bilde sich um den Fremdkörper - also das chirurgische Nahtmaterial - herum und versuche, ihn einzukapseln. Wenn das nicht gelinge, werde der Fremdkörper ausgeschwemmt. "Und der einfachste Ausgang findet sich entlang chirurgischer Wege, bei Bauchschnitten zum Beispiel an der Narbe", sagt Senninger.
Zu der Zeit, als Annegret Hötger an der Galle operiert wurde, seien solche Fadenunverträglichkeiten nichts Seltenes gewesen. Etwa 10 Prozent der Patienten seien betroffen gewesen. Der Mediziner erklärt: Damals hätten Chirurgen noch anderes Nahtmaterial benutzt als heute: klassische Zwirnfäden, Seiden- und Kunststofffäden sowie das sogenannte Catgut aus Schafsdarm. Nur Letzteres habe sich gut aufgelöst, alle anderen Fäden überhaupt nicht. Das habe vielen Patienten Probleme bereitet.
Auch Annegret Hötger: Sie ging wieder ins Krankenhaus, ließ sich noch einmal aufschneiden und die Fäden aus den inneren Schichten der Bauchdecke entfernen. Auch ihr damaliger Hausarzt holte noch einen Faden heraus.
Danach hatte die Spengerin jahrelang Ruhe - bis 2011. "Auf einmal bildete sich an der Narbe wieder ein dicker Knoten. Der war so groß wie eine Haselnuss."
Ihr Hausarzt beruhigte sie. Es sei nichts Bösartiges. Dennoch: "Der Klumpen wurde immer dicker." Wieder wollte ein Faden raus.
Erneut legte sich Hötger ins Krankenhaus, diesmal in Halle. Bei einem ambulanten Eingriff holte der Arzt wieder einiges an Nahtmaterial aus ihrem Körper - weitere Überbleibsel ihrer Gallen-Operation. Mittlerweile lag die schon fast vier Jahrzehnte zurück.
Auch danach hatte die Spengerin den Faden noch nicht endgültig verloren: Der Arzt entdeckte weiteres Nahtmaterial. "Das hätte er ambulant aber nicht herausnehmen dürfen." Wieder operieren lassen wollte sich Hötger jedoch nicht. "Ich wollte mich nicht noch einmal in Vollnarkose unters Messer legen."
Im September 2012 kam es dann noch schlimmer: "Da bin ich morgens aufgestanden und hatte einen fingernagelgroßen Eiterklumpen am Bauch", berichtet sie. "Das waren richtige Schmerzen." Wieder mal war ein Faden Schuld an ihrem Leiden.
Monatelang dauerte es, bis sich der zur Oberfläche durchgearbeitet hatte. Erst vor kurzem konnte er schließlich entfernt werden.
Die 67-Jährige hält eine kleine durchsichtige Tüte in der Hand. Darin eingeschweißt ist der Faden, der ihr monatelang Schmerzen verursacht hat. Mit der Fingerspitze fährt Hötger darüber. "Der ist fast hart wie Draht." Dass sie den Faden endlich verloren hat, darüber ist die Spengerin überglücklich: "Jetzt geht es mir besser."
Sie hofft, künftig wieder voll am Lauftraining teilnehmen zu können. "Der Bauch hat meinen Sport stark eingeschränkt." Wochenlang sei sie beim Training immer nur mitgejoggt. Ans Sprinten jedoch sei überhaupt nicht zu denken gewesen. "Das hat mir der Arzt zeitweise sogar untersagt."
Bei den Deutschen Meisterschaften im Juli will Hötger jedoch wieder richtig durchstarten - und bis dahin noch einiges an Zeit herausholen. Immerhin hat sie einen Titel zu verteidigen.