
Löhne/Bielefeld. Damit hat wohl keiner im Gerichtsaal gerechnet: Der 26-Jährige, der laut Anklageschrift Harun Aydurmus am Vatertag mit einem Spaten vor dem Löhner Bahnhof erschlagen haben soll, ist freigesprochen worden. "Der Angeklagte hat in Notwehr gehandelt", sagt die Vorsitzende Richterin Jutta Albert. Der Haftbefehl ist aufgehoben. Mikhail Z. verlässt als freier Mann das Gericht.
Es sei nicht nachweisbar, dass der 26-Jährige den Tod des Familienvaters wirklich verschuldet habe. Die Todesursache, ein Schädelhirntrauma, konnte auch nach etlichen Zeugenaussagen nicht geklärt werden. "Das ist unbefriedigend", sagt Albert. "Für uns und für die Familie des Opfers." Trotz Urteilsspruch seien noch viele Fragen offen. So könne das Gericht nicht nachvollziehen, warum Aydurmus am Vatertag so gehandelt hat, wie er eben gehandelt hat.

Rückblick: Der Angeklagte und seine Freunde sollen Aydurmus den Weg vom Bahnhofsvorplatz versperrt haben. Eine Nötigung kann dem 26-Jährigen jedoch nicht nachgewiesen werden: "Rumstehen ist kein Verbrechen", so Richterin Albert.
Aydurmus habe das Fenster runtergekurbelt, Schimpfwörter seien aus beiden Richtungen gefallen. Doch warum der Familienvater dann ausstieg, zum Kofferraum ging und sich mit einem Spatenstiel bewaffnete, "dafür haben wir keine Anhaltspunkte". Die Zeugenaussagen waren oft widersprüchlich, viele betreffen nur das Geschehen vorher und nachher, nicht die eigentliche Tat.
Fakt ist für das Gericht, dass es ein Gerangel zwischen Opfer und Angeklagten gab. Aydurmus schlug mit dem Spatenstiel zu, traf den 26-Jährigen am Oberkörper, der Aydurmus daraufhin den Stiel entriss und selber zuschlug. Er traf den Kopf. "Sie haben mindestens zweimal zugeschlagen", so Albert.
Doch ob Aydurmus dann weiter geschlagen wurde, geschubst oder gestolpert ist, und so auf den Boden aufschlug, kann nicht festgestellt werden. Auch nicht, ob ein heftiger Sturz auf den Hinterkopf, Tritte (von anderen aus der Gruppe des Angeklagten) oder weitere Schläge die Ursache für den Tod waren.
Harun Aydurmus hat seine Frau Yasmine und sechs Kinder hinterlassen. Alle - bis auf Tochter Selma, die er am Vatertag zum Bahnhof gebracht hat - sind bei der Urteilsverkündung dabei. Dass die Familie vom Freispruch überrascht ist, wird deutlich, als alle mitten in der Urteilsbegründung den Raum verlassen.
"Keiner hat mit diesem Urteil gerechnet", sagt Deborah Weinert, Vertreterin der Nebenkläger, nach der Verhandlung. "Das müssen wir alle erst einmal sacken lassen." Auch Rechtsanwalt Christian Thüner, der einen Teil der Familie vertritt, ist verwundert. "Nicht mal die Verteidigung hat es gewagt, einen Freispruch zu beantragen." Dass der 26-Jährige aus Notwehr gehandelt habe, sei ausschließlich die Meinung des Gerichts.
Staatsanwältin Julia Behrendt forderte im Plädoyer sechseinhalb Jahre Haft. Das höchst mögliche Strafmaß - elf Jahre und drei Monate - hielten die Vertreter der Nebenkläger, Andreas Stuke, Christian Thüner und Deborah Weinert für angemessen. Die Verteidiger Lutz Klose und Helmut Wöhler plädierten auf drei Jahre und drei Monate.
Das Gericht setzt sich über alle geforderten Strafmaße hinweg und spricht ihn frei. Mikhail Z. saß fast sieben Monate in U-Haft. Wöhler hat Respekt vor dem Urteil. Ist dennoch überrascht. "Wir haben zwar unser Ziel erreicht, aber es ist einfach tragisch", sagt Wöhler. Sein Mandant sei nicht der klassische Schläger. "Das Geschehen prallt nicht an ihm ab, es wird ihn zeitlebens beschäftigen", so Wöhler.
Auch die Richterin sieht dem 26-Jährigen Reue an. "Das ist nicht gespielt. Er fühlt sich nach wie vor schuldig." Der Freispruch bedeute nicht, dass er ihn nicht geschlagen habe. "Aber das ist gerechtfertigt, es war Notwehr", so Albert.
Revision
Mit dem Urteil ist der Prozess um den getöteten Harun Aydurmus noch nicht abgeschlossen.Staatsanwaltschaft und Vertreter der Nebenkläger prüfen, ob sie in Revision gehen. Fest steht das noch nicht. „Wir müssen das mit der Familie in Ruhe besprechen“, sagt Anwältin Weinert.
Die Revision muss innerhalb einer Woche eingelegt werden.