Wohin die Wirtschaft und die Zentralbank steuern

Kreis Herford. Peter Bofinger gehört zu den einflussreichsten Ökonomen im deutschsprachigen Raum. Von 2004 bis 2019 war er einer der fünf Wirtschaftsweisen, bis 2020 lehrte er als Professor an der Uni Würzburg. Und er gilt als Vertreter einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik, die auf die Stärkung der Wirtschaft durch Kaufkraft setzt. Wie ist es um sie derzeit bestellt? Antworten gab Bofinger während der Küchenmeile. Eingeladen hatte ihn die MHK Group AG, ein Dienstleistungsunternehmen für mittelständische Fachhandels- und Handwerksunternehmen. Im Herforder Marta-Forum sprach Bofinger zwar von sehr schwierigen Zeiten, sagte aber auch, dass die globale Wirtschaftswelt deshalb nicht untergehen werde. Auch wenn das Münchener Ifo-Institut gerade seine Zahlen zum Wirtschaftswachstum nach unten korrigiert hatte. "Wir bekommen eine Rezession im Winterhalbjahr." Schlechte Ausgangslage Der private Verbrauch sinke, dem Ifo-Institut zufolge, 2023 um zwei Prozent, fürs nächste Jahr prognostiziert es eine hohe Inflationsrate. Bofinger kann sich vorstellen, dass es schlimmer kommt: Das Ifo-Institut gehe davon aus, dass die Haushalte ihre Sparraten zurückfahren. "Aber viele haben diese Möglichkeit gar nicht mehr." Zudem sei Deutschland, bezogen auf den Prognosezeitraum 2022/2023, das Land mit den schlechtesten Wachstumsaussichten. Mit seinem Geschäftsmodell sei es zwar jahrzehntelang gut gefahren, jetzt falle es ihm aber auf die Füße. "Deutschland ist der kranke Mann beim globalen Wirtschaftswachstum." Gründe sind die starke Orientierung auf Export, mehr noch als Großbritannien und die USA, auf die Industrie, das Automobil und russisches Gas. "Wir haben unsere Exportprodukte im Vergleich zu Inlandsprodukten von 25 Prozent 1990 auf weit über 40 Prozent ausgedehnt. Wir waren der Industrielieferant für die Welt." Dabei war nicht alles eigene Wertschöpfung. "Wir haben viel für die Produktion importiert, das dann gut verarbeitet und gut weiterverkauft." Doch wenn die Lieferketten nicht funktionieren, sei das Modell problematisch. "Was wir brauchen, ist eine Re-Globalisierung mit größere Diversifikation. Sprich: eine Produktion in und Importe aus verschiedenen Ländern, beispielsweise auch anderen als China. Die Fokussierung auf die Industrie sei nun zudem schwierig, weil sie energieintensiv sei und weg von fossilen Brennstoffen müsse. Auch seinen Fokus aufs Automobil müsse Deutschland anpassen. Die Abhängigkeit von Russland, in die sich Deutschland begeben habe, ist für Bofinger besonders bemerkenswert. Eindrucksvoll sei zudem, wie wichtig Russland und die Ukraine zusammen für Deutschland seien - im Hinblick auf Gas, Öl, Metalle, pflanzlichen Öle und vielem anderem. Die schwierigste Krise überhaupt "All das zusammen zeigt, dass wir in der Nachkriegszeit vor der schwierigsten Krise stehen, die wir je erlebt haben. Keiner weiß, wie wir durch diesen Winter kommen, gerade wenn es lange kalt wird." Und besonders problematisch werde es, wenn die privaten Haushalte nicht mitmachten. Das größte Problem bei der jetzigen Energiekrise sei aber, dass sie immer systemischer werde, je länger der Schock darüber andauere. Ökonomen haben dafür ein Analyseinstrument, das zeigt: "Die Inflation hat sich in das System hineingefressen." Viele Ökonomen, auch er selbst, hätten diese Komponente unterschätzt, sagte Bofinger. Wohl deswegen habe auch die Notenbank nicht schnell genug reagiert. Nun gebe es einen Angebotsschock. "Das ist garstig, weil dabei die Wirtschaft in den Keller geht und die Inflationsrate steigt." Wenn die Notenbank nun die Zinsen erhöhe, gehe die Wirtschaft in die Knie, die Inflation vielleicht zurück. Wenn sie aber nichts macht, läuft zwar die Wirtschaft besser, die Inflation ist dann jedoch nicht in den Griff zu bekommen. Was die Europäische Zentralbank plant Die Europäische Zentralbank habe entschieden, entschlossen zu handeln und hat die Zinsen in einem Maß erhöht, wie das bisher noch nicht der Fall war. So schmerzlich das sei für die Wirtschaft: "Ich glaube, man muss das tun. Das ist in der Ökonomie wie in der Medizin, manchmal gibt es Therapien, die einfach unangenehm sind." Ohne ginge es aber auch nicht. Zentrales Thema für die Notenbank sei dabei die Lohn-Preis-Spirale: Bei einem Energieschock und einer hohen Inflationsrate - im September in Deutschland von zehn Prozent - bestehe die Gefahr, dass die privaten Haushalte das für eine Situation halten, die auf Dauer so bleibt. Arbeitnehmer erwarteten dann beispielsweise in Tarifverhandlungen einen Inflationsausgleich. "In Deutschland sind wir schon auf diesem Weg." Die Notenbank bezeichne so etwas als Entankerung. Bofinger hatte dafür ein privates Beispiel: Gerade habe er Hotelzimmer für 30 Personen für Mai 2023 buchen wollen. Das Hotel wollte ihm aber wegen der Inflation keinen Preis nennen. Es erwartet also Preissteigerungen. Solche Erwartungen können gefährlich werden, weil die Inflation damit eine Eigendynamik entwickelt. Wenn die EZB die Zinsen nun erhöhe, werde ihr vorgeworfen, sie würge die Konjunktur ab. Ökonomisch sei das aber komplizierter. Bofinger verweist auf das Taylor-Prinzip: Steigt die Inflation um ein Prozent, muss der Zinssatz, den ein Kreditnehmer an die Bank zu entrichten hat, darüber liegen. So werden Investitionen unattraktiv, und das dämmt die Ökonomie und die Inflation ein. Mit anderen Worten: "Mit dem Zinsanstieg, den wir jetzt haben, ist es nicht getan." Wann sich die Lage bessert Bofinger zufolge verschwindet der Effekt, den die Energiepreise auf das Wirtschaftssystem haben, wenn sie ein Jahr lang nicht mehr steigen. Denn die Inflationsrate bemisst sich an der Preisentwicklung der vorangegangenen zwölf Monate. Er hält es für möglich, dass die Energiepreise ihren höchsten Stand bereits erreicht haben. Ideal wäre ein Ende des Ukraine-Krieges: Geringere Energiepreise würden dämpfend wirken, auch auf die Lohnpreisentwicklung. "So war das auch in der Energiekrise in den 70er/80er Jahren." Auf die Weise sei die Inflation aus dem System zu bekommen. "Aber das ist kein Prozess, der morgen stattfindet. Ich denke, das wird auch 2024 noch nicht wieder alles normal sein." Verschiedene Wirtschaftsinstitute seien da jedoch optimistischer. Was der Staat tun sollte Bofinger, der seinen Vortrag vor der Ankündigung der Regierung von Hilfen in Höhe von 200 Milliarden Euro hielt, plädierte dafür, dass der Staat nicht kleckert, sondern klotzt. Auch, weil sich bereits gesellschaftliche Zerwürfnisse ankündigen - etwa Narrative, nach denen die Sanktionen gegen Russland nur die deutsche Wirtschaft kaputt machen, aber Russland nicht schaden. Die Schuldenbremse hielt er dabei für sekundär: "Deutschland ist unter den G7-Ländern das Land mit der geringsten Staatsverschuldung relativ zur Wirtschaftsleistung." In der Situation liegen auch Chancen Zudem wies er auf die Chance hin, die für Maßnahmen gegen den Klimawandel in der Krise stecken. "Wenn man Ökonomen fragt, was nötig ist, um das Klima zu retten, dann sagen die: "Das muss richtig teuer sein." Aber nicht einmal die kühnste aller Regierung hätte die derzeitigen Energiepreise durchsetzen können. "Wir haben die Chance, damit ein Umdenken hinzubekommen. Für die Umwelt wird das mittelfristig einen guten Effekt haben."

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