Lockdown-Ende: Wenn die Rückkehr zur Normalität Ängste auslöst

Herford. Ende Mai ist die Corona-Lage schlagartig umgesprungen. Innerhalb von nur wenigen Wochen hat der Kreis Herford eine Lockerungsstufe nach der anderen genommen. Inzwischen gilt im Wittekindskreis die Inzidenzstufe 0 und damit gelten nur noch wenige Einschränkungen. Zum Beispiel sind Treffen mit anderen Menschen ohne Beschränkungen wieder erlaubt. Dank Impfungen sinkt das Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken. Dennoch verursachen Lockerungen für manche Menschen neuen Stress – und Angst. Eine Bezeichnung gibt es dafür auch schon: das Cave-Syndrom (übersetzt das "Höhlen"-Syndrom), wie mehrere Medien berichten. Die Neue Westfälische hat mit Stephan Blaschke, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Klinikum Herford, über das Thema Ängste gesprochen. Innerhalb von nur wenigen Wochen sind die Inzidenzwerte stark abgefallen. Damit einhergehen weitreichende Lockerungen. Viele Menschen freuen sich über eine stückweise Rückkehr zur Normalität. Manche Menschen macht diese Entwicklung unsicher oder gar ängstlich. Warum fällt die Rückkehr offenbar manchen Menschen schwerer als anderen? STEPHAN BLASCHKE: Zunächst muss man sagen, dass Ängste etwas ganz natürliches sind. Ängste ermöglichten der Menschheit geradezu erst das Überleben. Angst-Experte Professor Borwin Bandelow (Psychiater und Neurologe, Göttingen, Anm. d. Redaktion.) sagte immer: 'Angst ist aus der Zeit als unsere Urahnen gegen Säbelzahntiger kämpfen mussten.' Und weil die überlegt hatten, die Angst hatten, ist Angst an sich auch so tief im menschlichen Gehirn verankert. Jeder Mensch kennt Ängste in unterschiedlichen Situationen. Sie sind bei einem mehr, beim anderen weniger ausgeprägt. Eine der Grundängste, die sich hinter der Fragestellung verbirgt, ist die, etwas nicht unter Kontrolle zu haben. Dieser Aspekt spielt eine Rolle, wenn es neue Lockerungen gibt. Schließlich gab es ein ständiges Auf und Ab von Lockerungen über die drei Corona-Wellen, die wir bislang hatten. Dann muss man beachten, dass auch die Empfindlichkeit unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Eine Reaktion hängt davon ab, welche Vorbelastung aktuell besteht. Sprich: Wie sehr eine Person durch die Corona-Pandemie-Situation und die Folgen belastet ist. Jemand, der sehr entspannt durch die Pandemie gekommen ist, vielleicht auch keine wirtschaftlichen Einbußen hatte, wird in den meisten Fällen weniger stark mit Ängsten reagieren als jemand, der sowieso schon zum Beispiel wirtschaftliche Einbußen hat, durch Homeschooling belastet ist und da viele Folgen zu spüren bekommen hat. Das macht oft auch empfindlicher, auf bestimmte Faktoren mit Ängsten zu reagieren. Verbote und Vorsicht waren lange Zeit Begleiter im Alltag: Wie schnell gewöhnen sich Menschen im Allgemeinen an veränderte äußere Umstände? BLASCHKE: Manche Menschen sind in der Lage, sich sehr schnell mit neuen Gegebenheiten zu arrangieren und andere brauchen länger dafür. Dabei spielt zum Teil auch wieder eine Rolle: Wenn viele andere belastende Faktoren da sind, ist es oft hilfreich, ein gewisses konstantes äußeres Umfeld zu haben. Es kommt auch auf die Persönlichkeit an, ob man sich leichter auf Neues einstellt. Was können Betroffene tun, um ihre Angst zu bekämpfen? BLASCHKE: Es ist häufig schon hilfreich, wenn man sich klarmacht, dass Ängste eben etwas Natürliches sind. Ängste sind nicht unbedingt Ausdruck von Krankheit. Sich das klarzumachen hilft, um mit den Ängsten leichter umzugehen. Speziell im Zusammenhang mit der Pandemie kann es von Fall zu Fall nützlich sein, sich selbst eine Art Informationssperre aufzuerlegen. Zum Beispiel, nicht mehr jede Sondersendung und Talkshows anzuschauen oder sich Informationen nur aus seriösen Quellen zu suchen und keine Facebook-Kommentare zum Thema zu lesen. Die tragen eher zur Verunsicherung bei. Allerdings gibt es sicherlich kein Patentrezept. Man sollte möglichst auf medikamentöse Hilfen verzichten, insbesondere auf Beruhigungsmittel mit der Gefahr der Abhängigkeitsentwicklung, da es sich um keine Erkrankung im eigentlichen Sinne handelt. Wenn die Angst stärker ausgeprägt ist, kann die Person es mit Entspannungstechniken versuchen. Vor allem, wenn schon Erfahrungen damit gesammelt wurden. Helfen kann die progressive Muskelentspannung nach Jacobson, Autogenes Training oder Yoga. Spaziergänge an der frischen Luft können auch den Kopf frei pusten. Eventuell können pflanzliche Präparate wie Baldrian oder Lavendel hilfreich sein. Ab wann können Ängste krankhaft werden? BLASCHKE: Das ist der Unterschied zwischen Angst und einer Angststörung. Angst ist hilfreich. Eine Angststörung bedeutet jedoch, dass sie dem normalen Leben im Weg steht. Betroffene werden am Alltagsleben zunehmend gehindert und die Gedanken kreisen nur noch um dieses Thema, in etwa so: 'Ich traue mich gar nicht mehr rauszugehen, weil ich mich durch die Lockerungen sofort infiziere'. Das ist spätestens der Zeitpunkt, wo jemand professionelle Beratung in Anspruch nehmen sollte. Das kann zuerst der Kontakt mit dem Hausarzt sein, da dies kurzfristig zu realisieren ist. In diesen Fällen der Angsterkrankung ist ein Austausch mit einem psychologischen Psychotherapeuten oder einem Psychiater sinnvoll. Und in ganz akuten Fällen natürlich auch bei uns in der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Klinikum Herford.

Meistgelesen