Ersthelfer rettet Bünder Motorradfahrer auf A30 das Leben – mit Gürteln Wunden abgebunden

Bünde/Osnabrück. Ein Tag, ein einziger Moment hat Sven Bökers Leben für immer verändert. Bei einem schweren Motorradunfall auf der A30 verliert der Familienvater aus Bünde seinen Unterarm und einen Teil seines Fußes. Er blutet stark, schwebt in akuter Gefahr. Sein Lebensretter ist der Osnabrücker Mirko Ortmann. Er schaut nicht weg, hält an, hilft dem verunglückten Bünder. Heute sind die beiden Freunde. Für sein beherztes Eingreifen zeichnet die Stadt Osnabrück Mirko Ortmann sogar aus. Mit dabei ist sein Kumpel Sven Böker, der bisher 20 Operationen über sich ergehen lassen musste. Das Beachtliche an dem Mann: Trotz Handicap blickt er positiv in die Zukunft. Aber von vorne. Es ist der 8. Juli 2024 – ein Tag, den auch Mirko Ortmann nie wieder vergessen wird. Mit seinem Auto fährt der Friedhofsgärtner nach Feierabend nach Hause – es geht über die A30 in Richtung Osnabrück. Bei Melle wird er gegen 16.40 Uhr von einem Motorrad überholt. Er sieht, wie beim Einscheren des Zweirads plötzlich dessen Lenker umschlägt. &bdquo;Das Bike schlug in die Leitplanke ein. Sven flog etwa 90 Meter durch die Luft, während das Motorrad noch Hunderte Meter alleine weiterfuhr“, schildert er die dramatischen Sekunden. Lesen Sie auch: Helden im Alltag: Ersthelfer retten Unfallopfer in Herford aus dem Auto Ersthelfer: &bdquo;Ich habe einfach nur noch funktioniert“ An den Unfall selber kann sich Sven Böker nicht erinnern. Daher erzählt sein Freund, was geschah. Der 33-jährige Bünder sei schließlich in einem Wassergraben am Seitenstreifen gelandet. Ortmann stoppt seinen Wagen. Ab dem Moment funktioniert er einfach nur. Er hat wenig Erfahrungen, erinnert sich aber an die Übungen aus der Bundeswehrzeit. Er ruft die Polizei an, sagt gleich: &bdquo;Alarmiert die Feuerwehr und einen Hubschrauber! Der Unfall hier ist sehr schwer.“ Dann läuft er an der Leitplanke entlang, hat den Verkehr hinter sich im Blick. Er weiß, wie gefährlich es zu Fuß auf der Autobahn ist. Als er bei Sven Böker ankommt, sieht er, wie schwer dieser verletzt ist. Der rechte Arm ist abgetrennt, das Bein verdreht, ein Teil des Fußes ist ebenfalls abgetrennt. Ortmann weiß, er muss die Blutung sofort stoppen, zieht seinen Gürtel aus der Hose, bindet Arm und Bein ab. Ein zweiter Helfer kommt in dem Moment auch an der Stelle an. Reicht ihm seinen Gürtel. Dann drücken die Männer – sie haben auch daran gedacht, Handschuhe aus dem Verbandskasten anzuziehen – alle Wunden mit den Händen zu. &bdquo;Ich weiß, dass mir die beiden das Leben gerettet haben“, sagt Böker im Gespräch mit der NW. Als dem Bünder später die Kleidung, die er an jenem Tag trug, im Krankenhaus überreicht wird, findet er die drei Gürtel. Seinen und die der Ersthelfer. Sven Böker liegt mehrere Tage im Koma Bis die Rettungskräfte damals an der Unfallstelle ankommen, vergeht eine gefühlte Ewigkeit für die Ersthelfer. In Wirklichkeit geht es aber recht schnell. Sven Böker, er ist verheiratet, hat einen Stiefsohn (10) und eine Tochter (2), kann nicht mit dem Rettungshubschrauber abgeflogen werden. Zu schwer sind seine Verletzungen für diesen Transport. Der Rettungswagen bringt ihn nach Osnabrück ins Krankenhaus. Sein Retter bleibt zurück. Ihn quält ab diesem Moment die Frage: Schafft es der Motorradfahrer? Informationen bekommt er zunächst nicht. Stichwort: Datenschutz. Einige Tage liegt Böker nach den ersten schweren OPs im Koma. Dann wacht er auf. Sein rechter Unterarm und ein Teil seines Fußes fehlen. &bdquo;Ich war irgendwie nicht geschockt. Ich hatte damit gerechnet“, erinnert er sich. Ein bisschen Glück hat er auch gehabt: Er ist Linkshänder. Neben Arm und Fuß hat er weitere Verletzungen – unter anderem an der Hüfte und am linken Knie. Heute sind beide Beine geschient. Acht Monate ist Sven Böker nicht zu Hause, sondern in Krankenhäusern und zur Reha. Noch steht eine weitere OP am Knie aus. Seit März ist er wieder bei seinen Kindern und seiner Frau in der ländlich gelegenen Wohnung im Stadtteil Hüffen. &bdquo;Ich bin wieder recht mobil, kann sogar Treppen steigen und arbeite wieder“, erzählt er. Das ist ihm wichtig. Er schaut immer nach vorne. Er ist Bundeswehrsoldat, arbeitet allerdings als Hauptmann bei der 1. Panzerdivision in Oldenburg im Büro. In der Regel ist er aktuell im Homeoffice in Bünde und arbeitet von dort. Das sei kein Problem, sagt er. Phänomen Gaffer: Weiterfahren, Telefon weg: Richtiges Verhalten am Unfallort Familienvater ist ein umsichtiger Motorradfahrer In all der schweren Zeit unterstützt ihn seine Familie. Doch wie schafft man es, so positiv nach vorne zu blicken? &bdquo;Ich sage mir immer, was wäre gewesen, wenn es noch schlimmer gekommen wäre? Wenn ich gelähmt wäre oder geistig nicht mehr fit?“, so der 33-Jährige. An dem Tag, als der Unfall passiert, war Böker aus dem Urlaub gekommen und wollte sein Motorrad in die Werkstatt bringen. Meist fährt er über Land, dieses Mal wählt er die A30. Warum? Das weiß er nicht mehr. Eins aber schon: Gerast ist er ganz sicher nicht. &bdquo;Ich bin ein umsichtiger Fahrer, ich habe schließlich Familie“, betont er. Das Dramatische: Sein Motorrad sollte unter anderem in die Werkstatt, weil er einen Lenkungsdämpfer nachrüsten lassen wollte. Das ist ein Teil, das das plötzliche Umschlagen des Lenkers, wie es bei seinem Unfall wohl geschehen ist, verhindern kann. &bdquo;Bei neueren Bikes gehört das zum Standard, bei älteren aber nicht“, weiß der Bünder. Ärger über Gaffer und Pöbler: Herforder Ersthelfer nach schwerem Unfall bepöbelt Ersthelfer erhält Belobigungsurkunde des Landes Niedersachsen Doch warum erzählt er eigentlich seine Geschichte öffentlich? Er will anderen zeigen, dass das Leben auch nach solchen Schicksalsschlägen weitergehen kann. Er ist froh, bei seiner Familie zu sein. Er hofft für sich, dass er nach der noch ausstehenden Knie-OP die Schiene am linken Bein noch loswerden kann. Für seinen rechten Arm hat er inzwischen auch eine Prothese. Anderen Menschen will er mögliche Berührungsängste nehmen. So war er im Juni auch beim Veteranentag der Bundeswehr in Berlin und hat aufgeklärt. Zurück zu Mirko Ortmann. Er fragt sich immer wieder, wie es Sven Böker wohl gehen mag. Lebt er noch? Schließlich meldet sich die Polizei bei ihm, fragt, ob seine Telefonnummer an die Ehefrau von Böker weitergegeben werden darf. Dann kommt einige Tage nach dem Unfall der erlösende Anruf. Der Fremde, dem er geholfen hat, lebt. Bökers Ehefrau reicht das Telefon sogar an ihren schwer verletzten Mann weiter. Die beiden, die dieser eine Moment zusammengeführt hat, hören sich das erste Mal. Der Osnabrücker ist unendlich erleichtert. Von diesem Tag an tauschen sich die beiden regelmäßig per Chat-Nachricht oder Anruf aus. &bdquo;Mir tat das richtig gut. So habe ich auch all das erfahren, an das ich mich nicht mehr erinnern kann“, sagt Böker. Er und sein Lebensretter halten Kontakt. Anfang Januar dieses Jahres treffen sie sich das erste Mal. Ein besonderer Moment. Seither sehen sie sich öfter. Zuletzt beim Termin mit der Osnabrücker Oberbürgermeisterin Katharina Pötter, die Ortmann eine Belobigungsurkunde des Landes Niedersachsen überreicht. Denn zu viele Menschen sehen bei Unfällen einfach weg – oder Gaffen, ohne zu helfen. Ortmann: &bdquo;Für mich war es absolut selbstverständlich, Sven zu helfen.“ Ersthelfer hat immer wieder die Unfallbilder im Kopf Verarbeitet hat er die Minuten an der Unfallstelle noch lange nicht: &bdquo;Immer wenn ich einen Motorradfahrer sehe, bekomme ich Panik. Ich habe unglaubliche Angst, dass auch ihm so ein schwerer Unfall passiert. Ich habe dann sofort die Bilder von Sven vor Augen, wie er da durch die Luft fliegt.“ Der Osnabrücker ist heute einfach nur froh, dass Sven Böker überlebt hat. &bdquo;Der Rettungsarzt sagte später zu mir, die Chance, das Krankenhaus lebend zu erreichen, liegt bei fünf Prozent“, erinnert er sich. Und genau diese fünf Prozent sind eingetreten und haben aus zwei Fremden zwei Freunde gemacht. News direkt aufs Smartphone: Kostenloser WhatsApp-Kanal der NW Kreis Herford

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