Medizinisches Wunder im Kreis Gütersloh: Sie überlebt Sturz aus fünf Metern nur knapp

Versmold. Das menschliche Gehirn besteht aus Autobahnen, Land- und Nebenstraßen. Dieses Bild benutzt Astrid Hanika-Karlowitsch, um den Zustand ihrer Tochter Lawenia nach dem schweren Unfall zu beschreiben. Denn ihre Autobahnen im Kopf sind Dauerbaustelle. Viel Hoffnung hatten sie und Ehemann Dirk Karlowitsch nach dem verhängnisvollen Sturz am 5. März 2021 nicht, dass Lawenia überleben würde. Aber die Geschichte der Familie zeigt, was mit viel Kampf, noch mehr Liebe und bloßem Willen möglich ist. Jener verhängnisvolle Freitag im Frühling 2021 veränderte das Leben von Lawenia Karlowitsch für immer. Die Versmolderin, damals 28 Jahre alt, stieg mit zwei Freunden auf ein Flachdach. &bdquo;Wir wollten uns die Sterne anschauen. Ich liebe Sterne“, sagt Lawenia. Doch der nächtliche Ausflug ging schief. Die junge Frau stürzte gegen 23.30 Uhr von dem fünf Meter hohen Dach auf den Asphalt. Die Verletzungen waren schwer, sie schwebte in akuter Lebensgefahr und wurde sofort notoperiert. Lesen Sie auch: Unternehmen aus dem Kreis Gütersloh hilft Mitarbeiter beim Kampf zurück ins Leben Etwa eine Stunde nach dem Sturz klingelten zwei Polizisten bei Astrid Hanika-Karlowitsch und Ehemann Dirk Karlowitsch (Anm.: Auf Wunsch der Familie werden im Textverlauf die Vornamen genannt). &bdquo;Da ist eine Welt zusammengebrochen“, erinnert sich Vater Dirk. Die ganze Familie bangt um das Leben von Lawenia. Als Dirk davon erzählt, kämpft er mit den Tränen. Die vergangenen Jahre gingen auch an den Eltern nicht spurlos vorüber. &bdquo;Wir haben die ganze Nacht auf dem Sofa verbracht“, sagt Astrid. Erst um 10 Uhr durften sie ihre Tochter im Krankenhaus besuchen. Die Corona-Pandemie erschwerte die Besuche massiv. Erinnerungen vom Sturz in Versmold fehlen &bdquo;Ich selbst kann mich an den 5. März gar nicht mehr erinnern“, sagt Lawenia. Auch die Zeit danach existiert in ihrer Erinnerung nicht. Dafür sind die folgenden Monate bei Astrid und Dirk umso präsenter. Die Ärzte entfernten zunächst die Schädeldecke. Die Patientin wurde vorübergehend ins künstliche Koma versetzt. Der gebrochene Kiefer wurde nicht behandelt, das war – ohne es despektierlich zu meinen – das kleinere Übel. Dadurch stand der Mund permanent offen. Fotos zeigen, wie die Versmolderin in ihrem Krankenbett liegt, teilnahmslos, fast wie ein Geist. &bdquo;Wir haben uns schon damit abgefunden, dass sie ein kompletter Pflegefall wird“, berichtet Vater Dirk. Für Mutter Astrid kam das nicht infrage. Sie kämpfte unermüdlich. Neben dem offenen, schweren Schädelhirntrauma und dem gebrochenen Kiefer wurden gebrochene Schulterblätter, gebrochene Rippen, angerissene Leber und Milz, beidseitig eingefallene und kollabierte Lunge und ein gebrochener Rücken diagnostiziert. Nach zwei Wochen verbesserte sich der Zustand: von akuter Lebensgefahr zu &bdquo;einfacher“ Lebensgefahr. Am 8. April 2021 zeigte Lawenia ein deutliches Lebenszeichen: Sie konnte ihren großen Zeh bewegen. Die Hoffnung wuchs, dass sie nicht querschnittsgelähmt bleiben würde. Ende April sollte eine Frühreha beginnen. &bdquo;Ich hatte Angst, was passiert, wenn sie sich im Spiegel sieht“, sagt Astrid. Doch der Moment kam. &bdquo;Irgendetwas ist dann bei ihr passiert.“ Der Zustand verschlechterte sich wieder. Trotzdem trat Lawenia die Reha in Bad Oeynhausen an. Lesen Sie auch: Safariland im Kreis Gütersloh unterstützt Familie nach schwerem Schicksalsschlag Mutter Astrid wich der Schwerverletzten nur selten von der Seite. &bdquo;Ohne die Hilfe hätte es Lawenia nicht geschafft“, meint Dirk. Er hielt inzwischen zu Hause die Fäden zusammen, managte, so gut es ging, die Reinigungsfirma der Familie. Astrid trainierte Arme und Beine ihrer Tochter und übernahm auf Anweisung die Arbeit des überlasteten Pflegepersonals. &bdquo;Das Leben bestand in dieser Zeit aus Kampf – für uns alle“, sagt die Mutter. Lawenia musste alles neu lernen: Sitzen, Stehen, Laufen, Essen, zur Toilette gehen. &bdquo;Mit dem Handy konnte ich am schnellsten wieder umgehen“, sagt die junge Frau. Einer der ersten Kontakte zur Außenwelt: eine Sprachnachricht für ihren Vater zum Geburtstag Ende August 2021. Frau aus Versmold denkt oft ans Aufgeben &bdquo;In der Reha habe ich oft daran gedacht, aufzugeben und zu sterben. Die Schmerzen waren einfach zu heftig“, sagt Lawenia. Der erste richtige Lichtblick, der Wendepunkt, ließ dennoch lange auf sich warten. Das war im Sommer 2022, bei einer weiteren Reha-Maßnahme in Hagen. &bdquo;Da habe ich wieder laufen gelernt, habe mit anderen Patienten Pizza gemacht, gespült und gebastelt“, erinnert sich die heute 33-Jährige. Dass Lawenia heute in ihrer eigenen Wohnung an ihrem eigenen Tisch sitzen kann, ist ein medizinisches Wunder. &bdquo;Ein Prozent Überlebenschance haben mir die Ärzte gegeben“, sagt sie. &bdquo;Ich habe vor dem Unfall leidenschaftlich gerne Fitnessboxen gemacht. Wahrscheinlich haben mir meine Muskeln das Leben gerettet.“ Im Moment ist sie wegen einer Fußoperation noch auf Krücken angewiesen. Trotzdem steht sie mit einem Bein wieder im Arbeitsleben. Doch mehr als drei Stunden am Tag in einer Borgholzhausener Kindertagesstätte gehen nicht. Dem Kampf ums Überleben folgt der um mehr Teilhabe. &bdquo;Das ist manchmal deprimierend“, sagt Lawenia. Auch interessant: Junge (10) im Kreis Gütersloh berührt mit schwerem Schicksal - 600 Menschen helfen Obwohl sie überlebt hat, &bdquo;sie ist nicht mehr die alte Lawenia von früher“, sagt ihre Mutter. &bdquo;Die Power, das Selbstbewusstsein von früher fehlt mir“, ergänzt ihre Tochter. Sie hat Ereignisse verpasst: die Hochzeit ihres Bruders, Taufen ihrer Nichten und Neffen. Das alles kommt nicht mehr zurück. &bdquo;Ich bin froh, dass ich vor meinem Unfall schon Fallschirmspringen war. Das geht nämlich heute nicht mehr“, sagt sie. Dennoch hat sie Träume, will reisen, Neuseeland mit einem Camper entdecken und irgendwann wieder mehr arbeiten. &bdquo;Die Autobahnen in Lawenias Kopf sind kaputt“, sagt Dirk. &bdquo;Aber sie hat gute Landstraßen entwickelt“, ergänzt Astrid. Ihre Tochter Lawenia kann so langsam wieder an die Überholspur denken. Denn die Zeit der Hoffnungslosigkeit ist schon lange vorbei. Aktuelle News bekommen Sie täglich über den WhatsApp-Kanal der NW Gütersloh

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