Alptraum Kinderkur: Opfer mussten teils das eigene Erbrochene essen

Versmold-Bockhorst. Ihre Erinnerungen waren lange verschüttet. &bdquo;Ich wusste, dass es da irgendetwas gab in meiner Vergangenheit, das mich zutiefst erschüttert haben muss, denn ich war immer extrem berührt, wenn es um das Thema Missbrauch ging. Aber ich konnte mich einfach an nichts erinnern", erzählt Jutta Redecker. Doch dann drang bei einem Geschäftstermin ganz unerwartet ein bestimmter Geruch in ihre Nase und plötzlich waren die Bilder wieder da. &bdquo;Ich stand da und habe einfach nur noch geweint", gibt die Unternehmerin ganz offen zu. &bdquo;Plötzlich sah ich mich als kleines Kind an den Rand eines großen, glitschigen Holzbottichs geklammert und erinnerte mich an diese Angst zu ertrinken", erzählt sie. Sechs bis acht Millionen sind betroffen Mit fünf Jahren wurde Jutta Redecker von ihrem Hausarzt in eine Kinderkur geschickt. Doch statt dort gesund und fröhlich ein paar schöne Wochen zu verbringen, erlebte sie Traumatisches. Und so wie ihr erging es in den 1950er- bis 1980er-Jahren vorsichtig geschätzt sechs bis acht Millionen Kindern in Deutschland. Verschickungskinder nennen sie sich heute und seit 2019 sind sie offiziell organisiert im Verein zur Aufarbeitung und Erforschung von Kinderverschickungen e. V. Jutta Redecker gehört zum Vorstand des Landesvereins NRW und ist dort erste Ansprechpartnerin für Menschen, denen ein ähnliches Schicksal widerfahren ist. 1962 war die damals Fünfjährige auf ihrer ersten Kur in Bad Sooden-Allendorf, an die sie sich inzwischen recht gut erinnern kann. Zwei weitere Kinderkuren auf Amrum und Langeoog in den Jahren 1963 und ’64 liegen für sie immer noch im Dunkeln. Die vollständige Verdrängung der Geschehnisse ist ein häufiges Phänomen auch bei anderen Betroffenen, wie sie heute weiß. &bdquo;Ich habe immer gedacht, dass nur mir so schlimme Dinge passiert sind und alle anderen Kinder eine schöne Zeit hatten", sagt sie. Doch vor drei Jahren stieß sie auf einen Bericht über die Initiative der früheren Verschickungskinder und stellte fest, dass das Leid System hatte. Ständige Angst, etwas falsch zu machen Vier bis sechs Wochen dauerten die Kinderkuren meistens, in denen die Vorschul- und Grundschulkinder weit weg von zu Hause ohne ihre Eltern untergebracht waren, manche von ihnen mit einer Diagnose, andere einfach nur, weil sie &bdquo;zu dünn" oder &bdquo;zu blass" waren. In den Heimen, deren Mitarbeiter oft durch die NS-Ideologie geprägt waren, herrschten militärischer Drill und ein liebloser Umgang mit den Kindern bis hin zu Schlägen. Auch über Fälle von sexuellem Missbrauch berichten einige. &bdquo;Ich erinnere mich daran, dass man ständig Angst davor hatte, bloßgestellt zu werden oder etwas falsch gemacht zu haben. Dann musste man sich in die Mitte stellen und wurde von der Gruppe ausgelacht", sagt Jutta Redecker und berichtet auch von Kindern, die gemästet und gezwungen wurden, ihr Erbrochenes zu essen. &bdquo;Wer nachts auf die Toilette musste, wurde bestraft. Wer ins Bett machte, musste auf den nassen Sachen im Waschraum schlafen oder nachts seine Bettwäsche selbstständig auswaschen – als Fünfjährige!" Brutalität war weit verbreitet Ihre Erinnerungen an die Angst vorm Ertrinken stammen von den wöchentlichen Solebädern, für die man in riesige Holzbottiche steigen musste. &bdquo;In denen konnte man nicht stehen, wenn man noch so klein war wie ich, und so klammerten sich die Kinder am Rand fest. Eine Erzieherin ging dann mit einem Holzstock rum und schlug uns auf die Finger", berichtet die 65-Jährige. Doch woher kam diese Brutalität, die offensichtlich in den über 1.100 Kinderkurheimen, die bis jetzt identifiziert und aufgelistet sind, herrschte? Viele der &bdquo;Tanten", wie die Erzieherinnen von den Kindern genannt werden mussten, und ärztlichen Leiter waren biografisch und beruflich geprägt durch die NS-Zeit. Ein autoritäres Menschenbild vom Kind, entsprechende religiöse und Militarismus-Doktrinen sind weitere Ursachen, die der Verein zur Aufarbeitung und Erforschung von Kinder-Verschickungen auf seiner Homepage angibt. &bdquo;Nach dem Krieg gab es viele leerstehende Erholungsheime auf der einen sowie Frühpensionäre und Erzieher, die keine Anstellung mehr fanden, auf der anderen Seite. Da kam man auf die Idee, dass man ähnlich den Kinderlandverschickungen, die es schon in der Weimarer Republik und der NS-Zeit gab, Kinder zum Aufpäppeln zur Kur dorthin schicken konnte", erklärt Jutta Redecker das Geschäftsmodell. Meistens waren es die auch heute bekannten kirchlichen und weltlichen Träger, die die Heime betrieben. &bdquo;Aber im Grunde konnte jeder, der eine Frühstückspension und ein paar Betten hatte, eine Erzieherin einstellen und Kuren anbieten. Eine Aufsicht durch das Jugendamt oder andere Institutionen gab es nicht – und somit auch keine Kontrolle." In fast jedem Kurort gab es Heime, so auch in direkter Versmolder Nachbarschaft in Bad Rothenfelde, wo sieben Einrichtungen bisher bekannt sind. Viele sprechen das erste Mal über ihre Geschichte Für Jutta Redecker ist die Arbeit im Landesverein eine Herzensangelegenheit. Im Kompetenzteam – so nennt sich der Vorstand – ist sie zuständig für die interne Kommunikation. Das heißt, wer einen ersten Kontakt mit dem Verein aufnehmen will, landet bei ihr. &bdquo;Viele Leute wollen einfach ihre Geschichte erzählen; für viele ist es das erste Mal, dass sie darüber sprechen", berichtet sie. Dass dabei Tränen fließen, ist nicht selten. Viele seien traumatisiert oder jahrelang in Therapie. &bdquo;Manche können bis heute nicht vor mehreren Menschen reden, andere können nicht reisen beziehungsweise außerhalb der eigenen Wohnung schlafen", nennt sie Auswirkungen der Kuren, genauso wie Ängste, Albträume oder extreme Schüchternheit. 350 Betroffene haben sich bereits in der NRW-Landesgruppe zusammengetan. In der Selbsthilfegruppe für OWL, die Jutta Redecker leitet, sind 17 Leute im Verteiler, die regelmäßig über neue Entwicklungen unterrichtet werden. Der Verein ist politisch sehr aktiv und hat nicht nur erreicht, dass die wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas Verschickungskinder mit Landesgeldern in einem vierjährigen Projekt vorangetrieben wird, sondern auch, dass sich der Landtag NRW in einer Anhörung mit dem Thema beschäftigt hat. Es soll ein wissenschaftliches Archiv aufgebaut und ein runder Tisch mit damaligen Trägern der Kinderverschickung eingerichtet werden. Vom 15. bis 18. September findet in Bad Sassendorf ein bundesweiter Fachkongress zum Thema statt. Es gehe den Betroffenen nicht in erster Linie um Entschädigungsleistungen, betont Jutta Redecker, sondern um die Anerkennung, dass ihnen institutionelles Unrecht widerfahren sei und es sich nicht um ein persönliches Problem handele. Mit jedem Bericht, der über die Verschickungsheime veröffentlicht wird, hofft Jutta Redecker, dass Betroffene erkennen, dass ihre Geschichte kein Einzelfall ist, und sich – nur für sich selbst oder die Gemeinschaft – an der Aufarbeitung beteiligen.

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