Schloß Holte-Stukenbrock. "Ein sehr impulsiver Mensch. der mit Leidenschaft Dinge in Angriff nimmt", so beschreibt sich Zaher Hassan selbst. Das seien typische Eigenschaften für jemanden, der aus dem Süden komme. Genauer: Aus dem Gaza–Streifen. Seit 29 Jahren lebt Hassan in Deutschland, mittlerweile in Schloß Holte-Stukenbrock. An die "ruhige, abwartende und nachdenkliche Art" der Westfalen habe er sich gewöhnt – und eine zweite Heimat gefunden.
Im Gaza-Streifen geboren – da stellt sich die Frage, welcher Nationalität Hassan angehört. "Das ist schwer zu beantworten", antwortet er. Vor allem, ohne sich politisch zu äußern. Denn das möchte Hassan nicht. "Ich sehe mich persönlich aber als Palästinenser."
Bis zu seinem 19. Lebensjahr lebt Hassan im Gaza-Streifen, macht sein Abitur und hat den Wunsch, Chirurg zu werden. "In Israel war solch ein Studium zu dem Zeitpunkt nicht möglich." Hassan entscheidet sich für ein Studium weitab von seinem Heimatland. "Deutschland stand an erster Stelle." 1983 kommt er hier an – ohne Sprachkenntnisse, ohne jemanden zu kennen, ohne das Land selbst zu kennen. Ob er – so jung in einem fremden Land – nicht Angst gehabt habe? "Doch, natürlich hatte ich die." Alles sei anders gewesen, auch das Wetter. "Im Dezember lag überall Schnee." Den habe er gar nicht gekannt.
Hassan kämpft mit der Sprache. "Das war nicht einfach", erinnert er sich. Aber er schafft es und spricht heute fehlerfrei. "Man muss sich nur dahinterklemmen." Bevor er studieren darf, muss er auf einem Studienkolleg sein Abitur nachmachen – "in Israel machten wir bereits nach 12 Jahren Abitur, in Deutschland erst nach 13 Jahren".
Schließlich studiert Hassan in Münster Medizin. "Dort habe ich in einem Wohnheim mit vielen Studenten gewohnt – und kannte noch nicht mal meine direkten Nachbarn." Diese Anonymität sei anfangs sehr ungewohnt gewesen. Ganz anders als im Orient. "Dort kennt man jeden und man lebt das Gemeinschaftsgefühl."
In Ibbenbüren und im Kreis Vechta macht Hassan seinen Facharzt. "Dann stand ich an einem Scheideweg: Bleibe ich im Krankenhaus oder lasse ich mich nieder?" Er entscheidet sich für Letzteres und übernimmt im April 2008 als (Unfall-)Chirurg die Praxis von Johannes Preus. Nach einem Umzug eröffnet er an der Kaunitzer Straße neu.
Immer wieder werden dem heute 47-Jährigen die Unterschiede zwischen seiner und der deutschen Kultur bewusst. "Im Orient besucht sich jeder spontan, ohne vorher Termine zu vereinbaren", sagt Hassan. Den Besuchern werde dann "alles aufgetischt".
Das Essen – auch das ist in Israel anders. "Wir essen alle gemeinsam aus einem Gefäß, hier in Deutschland hat jeder einen Teller mit seiner Portion vor sich." Brot spiele in Israel eine zentrale Rolle. Fleisch gebe es dagegen selten. "Es ist sehr teuer."
1991 lernt er seine Frau Kirsten kennen, zwei Jahre später heiraten sie. Kirsten ist gebürtige Westfälin. Probleme aufgrund der unterschiedlichen Kulturen habe es zwischen den beiden bisher nicht gegeben. "Wir führen eine interkulturelle Beziehung", sagt sie. "Man muss die Westfalen so nehmen, wie sie sind", sagt er und lacht. Er ist gegenüber allem aufgeschlossen. Nur aktiv Karneval feiern – das muss nicht sein. "Aber ich schaue mir gerne die Büttenreden im Fernsehen an."
Mit seiner Frau und den vier Kindern hat er sich in Schloß Holte-Stukenbrock gut eingelebt. Wo denn seine Heimat sei? Hassan seufzt kurz, es ist ihm anzusehen, dass er diese Frage nicht leicht beantworten kann. "Meine Heimat ist Schloß Holte-Stukenbrock." Zum Wohnen und Leben sei die Stadt ideal – "nicht weit ab vom Geschehen, aber auch nicht mittendrin". Die Menschen hier erlebt er als "sehr aufgeschlossen und nett".
Er zögert. Und sagt dann: "Aber mein Herz gehört Palästina." Dort sei er geboren, dort sei er verwurzelt und dort lebe der Großteil seiner Familie: Eltern, Geschwister, Nichten, Neffen, Tanten und Onkel. Sie vermisst er eigentlich immer. So oft wie es geht, fliegt Hassan nach Israel. "Über Weihnachten war ich wieder bei meinen Eltern." Und hat festgestellt: "Mit seinem Geburtsort bleibt man auf ewig verbunden."