"Guck mal, Hubschrauber"

Schloß Holte-Stukenbrock. Viele kleine Kinderaugen blicken mir entgegen, als ich am Morgen in das Holtebrocker Spielhaus komme. Einige groß und skeptisch, anderen neugierig, einer ängstlich. "Will die unbekannte Frau sich mit an unseren Frühstückstisch setzen", fragen sich die meisten "kleinen Wühlmäuse" wohl, die gerade an ihren Butterbroten kauen, Möhren knabbern und Joghurt löffeln. Nein, will sie nicht, sie will den Kindern vorlesen. Zehn Minuten lang. Aber bloß keine Hektik und alles schön der Reihe nach. Erst aufessen, Mund abputzen, Teller, Dosen und Becher auf einen Rollwagen räumen, Tisch abwischen. Muss alles seine Ordnung haben, da kann die Frau noch so ungeduldig auf ihren Einsatz warten. Auf der großen Matratze mit den vielen Kissen darauf mache ich es mir schon mal bequem und frage mich, ob und wie lange ich den Lesenachwuchs wohl begeistert kann. Mit Lesen jedenfalls nicht, aber mit Gucken, Zeigen und Erzählen, wie sich schnell herausstellen soll. In den Regalen des Spielhauses bin ich fündig geworden. Ein Buch mit vielen Tieren, einer Fee und bunten Glitzersteinen, das werden sie mögen, da bin ich mir (fast) sicher. Mia und Melissa, gekleidet in feenrosa, schmiegen sich dann auch an mich. Inklusive Trinkflasche versteht sich, schließlich kann Kind nicht wissen, wie lange das kuschelige Miteinander dauern soll. Schon bevor ich die erste Seite aufschlage, liegt einer meiner potentiellen Zuhörer hemmungslos schluchzend in den Kissen – mit Möhre, die er wohl unter sich begraben hat. Ich lasse ihn ziehen – mir orangefarbenem Mund auf dem Arm einer Betreuerin betrachtet er das Ganze aus sicherer Entfernung von oben.So, denke ich, jetzt wollen wir mal schauen, was es so auf sich hat mit den "Zehn Zaubersteine für die kleine Fee". Bin selber ganz gespannt. Muss mich aber noch gedulden, denn Luca, der auf seinem T-Shirt "I love Mum" stehen und sicherheitshalber sein eigenes kleines Büchlein mitgebracht hat, niest herzhaft. Seine kleine Nase schlägt unglaublich viele Blasen und kein Taschentuch in Sicht. Gut, dass die Erzieherin schnell für Abhilfe sorgt. Luca schnäuzt und alles ist wieder gut. Jetzt aber zur Fee mit den bunten Steinen. Tatsächlich schauen wir alle gemeinsam, welche Tiere das bunte Flatterwesen auf ihrer Reise trifft. Und dass es fliegen kann, weil es nämlich Flügel auf dem Rücken hat, das hat Talina mit sicherem Blick erkannt und benannt. "Guck mal, Hubschrauber". Auch mit den Farben kennen sich die Zweijährigen aus. "Wo ist der rote Stein?" Viele Mini-Zeigefinger pieksen in die entsprechende Richtung. Nur eine Seite weiter liegt ein Babytier mit Schnuller. "Oh, Nuller..." "Den braucht ihr aber nicht mehr, oder?" Energische Proteste. "Doch Nuller." Aha. "Weiter, weiter", drängt Mia und würde am liebsten im Sekundentakt umblättern. "Weiter, weiter". Aber da, ein lilafarbener Glitzerstein. "Ich auch lila", sagt Talina mit piepsiger Stimme und zupft an ihrem Pullover. Mia und Melissa tun es ihr gleich. Spätestens da ist den Jungen in der Runde wohl klar, dass die Mädchenthemen Überhand gewinnen. Ludwig kann nicht mehr, Julian wäre am liebsten schon in der Spielecke. Der Rest hält durch, entdeckt den kranken Igel Igor in seinem Bett ("aua, schläft"), die große Eule und den winzigen Krabbelkäfer. Die letzte Buchseite klappt um. "Ende" sagt Mia bestimmt, und tatsächlich sind die zehn Minuten schon vorbei. Warum die Fee Glitzersteine verteilt hat? Habe ich irgendwie nicht mitbekommen. Muss mir das Buch wohl nochmal ausleihen. Wenn die "kleinen Wühlmäuse" es hergeben.

Meistgelesen