Tritt mit Todesfolge gegen Familienvater aus Kreis Gütersloh: So geht es der Familie

Halle. Kerstin Hollmann hält einen Becher mit Kaffee in den Händen und schaut dem Familien-Kater hinterher. Ziellos streift er an diesem Morgen durch die Wohnung und irgendwie, so scheint es, weiß er nicht recht wohin mit sich. "Sogar Balou vermisst ihn ...", stellt sie fest und hebt kurz die Schultern. Dann setzt sie sich an den Küchentisch. Dorthin, wo bei Familie Hollmann immer alle wichtigen Sachen besprochen werden und wo zusammen gegessen wird. Und beginnt zu erzählen von jener verhängnisvollen Dezembernacht des vergangenen Jahres. "In der ganzen Zeit, in der wir zusammen waren, habe ich meinem Mann nie hinterhertelefoniert. Aber irgendwann war es vier Uhr und er war von der Weihnachtsfeier in der Friedrichshöhe noch immer nicht zurück. Ganz ungewöhnlich. Da habe ich ihn dann doch mal angerufen und gefragt, wie es so aussieht. Ralf war guter Dinge und sagte: Das Taxi kommt sofort, ich bin gleich zu Hause." Aber er kam nicht. Es wurde fünf, es wurde sechs und Kerstin Hollmann wurde unruhig. "Mein Mann war auch nicht mehr zu erreichen. Ich habe im Haller Krankenhaus angerufen. Fehlanzeige. Als nächstes dachte ich, gehst du ihm halt entgegen, so weit ist es von uns aus nicht bis zur Friedrichshöhe." Doch da fuhr schon die Polizei auf den Hof, gleich mehrere Beamte in einem Wagen, und Kerstin Hollmann wusste, es ist etwas passiert, etwas Schreckliches. "Die Beamten sagten zu mir, ich solle erst mal reingehen, rein ins Haus und mich setzen, dann würden wir sprechen." Aber sie wollte nicht rein. Sie wollte sofort wissen, was geschehen war. Und erfuhr schließlich, dass man ihren Mann soeben mit schwersten Kopfverletzungen nach Gilead gebracht habe und er im Koma liege. Dabei habe er eigentlich nur einen Streit schlichten wollen. Eine Welt brach zusammen. Ganz leise ist es in der Küche, kein Radio spielt und einen Augenblick lang schaut Kerstin Hollmann aus dem Fenster. Dann sagt sie: "Ich sehe Ralf immer und überall, er hat alles für seine Familie getan, er hat im Haus und am Haus immer alles erledigt, er war so fröhlich, er war ein so positiver Mensch, war immer für uns und für alle da ..." Tränen stehen in ihren Augen, während sie von ihrem Mann erzählt, der am Neujahrstag seinen schweren Verletzungen erlegen ist. Sie blickt mit dem Ansatz eines Lächelns zu ihren Kindern, die mit am Tisch sitzen. Florian und Sophie, 25 und 20 sind die beiden. Ihnen fehlt der Papa genauso. Die gemeinsamen Abendspaziergänge im Wald, bei denen über die Sorgen und die Besonderheiten des Tages erzählt wurde, das gemeinsame Schrauben an Oldtimern, die gemeinsamen Handballspiele von Vater und Sohn in der Dritten der HSG Union Halle und noch mehr, noch so viel mehr. Alles vorbei. Überwältigt von der großen Welle der Hilfsbereitschaft "Als wir nach Bethel gefahren sind, haben sich die Ärzte und das Pflegepersonal rührend um uns gekümmert", erinnert sich Kerstin Hollmann dann. "Überhaupt waren die in den nächsten zwei Wochen immer für uns da und haben sich für uns viel Zeit genommen; fast konnte man das Gefühl haben, Ralf sei der einzige Patient im ganzen Klinikum. Dasselbe galt für Bernd Eimterbäumer, den Haller Pfarrer. Obwohl er ab Weihnachten Urlaub hatte, rief er mich jeden Tag an." Kerstin Hollmann lächelt ein wenig. Und erzählt weiter. Davon, dass im Krankenhaus bei aller Fürsorge dennoch eine Sache auffällig gewesen sei: "Nie hat jemand gesagt, schauen Sie nach vorne, seien Sie zuversichtlich, das wird schon." Dort hatte man die Aussichtslosigkeit der Lage längst erkannt. Als klar war, dass die zentrale Schaltstelle im Gehirn von Ralf Hollmann maximal und irreversibel geschädigt ist, ging es vielmehr um die Frage, ob die lebenserhaltenden Maschinen ausgestellt werden sollen. Kerstin Hollmann schaut auf den Tisch. Dann hebt sie den Blick und sagt: "Das war eine Entscheidung, die ich nicht hätte treffen können. Niemand von uns." Stattdessen wurde eine neutrale Ethik-Kommission eingeschaltet, die Ärzte, Pfleger und Angehörige in Situationen wie diesen berät. Das Ergebnis fiel einstimmig aus: Es gibt keine Chance, die Geräte sollten abgeschaltet werden. Am 1. Januar war der Moment des endgültigen Abschieds gekommen. Ralf Hollmann wurde 51 Jahre alt. Seine Witwe trinkt einen Schluck Kaffee und berichtet nun von den vielen Menschen, die ihnen vor allem in den ersten Tagen und Wochen beigestanden haben. Da geht es um Menschen, befreundete und auch fremde, die der Familie Karten und Briefe schrieben und obendrein auch mal etwas Geld schickten oder zumindest Hilfe anboten. Oder darum, wie mal jemand einen Topf mit Suppe vorbeibrachte. Sie erzählt davon, wie sich das Team des Gartencenters Brockmeyer, wo Florian arbeitet, einbringt, immer noch. Ebenso wie Sophies Lehrer am Berufskolleg oder ihre eigenen Kolleginnen und Kollegen. "Das alles ist überwältigend", sagt Kerstin Hollmann und ist noch immer tief beeindruckt von dieser Welle der Hilfsbereitschaft. Und tatsächlich brauchte und braucht die Familie Hilfe, denn während ihr die Trauer und die Sinnlosigkeit dieses Todes allein schon so zu schaffen macht, dass manche Tage fast unerträglich schwer geworden sind, flatterten plötzlich jede Menge Rechnungen ins Haus. Die Rechnung für die Beerdigung, diverse Behördengebühren, Anwaltskosten - das neue Jahr hatte kaum richtig begonnen, als die ersten 12.000 Euro bereits fällig waren. Doch nicht nur das. Selbst telefoniert, um eine Trauma-Ambulanz zu finden "Seitens der Behörden wurde mir keine Hilfe angeboten", berichtet Kerstin Hollmann, "ich selbst habe überall rumtelefonieren müssen, um beispielsweise eine Trauma-Ambulanz zu finden." Hilfe habe sie schließlich in der LWL-Klinik gefunden. Hier kann sie nun mit geschulten Psychologen über die Trauer und die Angst und das Erlebte sprechen. Oder übt mit ihnen, wie sie sich verhalten kann, wenn sie demjenigen begegnen sollte, der ihren Mann - am Boden hockend - mit Anlauf unters Kinn getreten haben soll, so dass dieser mit voller Wucht zurückfiel, mit dem Hinterkopf auf den Boden schlug und sich das schwere Schädel-Hirn-Trauma zuzog. So zumindest beschreibt der Bielefelder Staatsanwalt Christopher York das Tatgeschehen in der Nacht vom 17. auf den 18. Dezember in seiner Anklageschrift und klagte den Haller in der Folge wegen Totschlags an. Laut Eröffnungsbeschluss zum Hauptverfahren sieht die Erste Große Strafkammer des Landgerichts Bielefeld in der Tat indes eine Körperverletzung mit Todesfolge. Zumindest nach den vorläufigen Beweisergebnissen. "Das kann sich auch alles noch wieder ändern", erklärte ein Sprecher des Landgerichts. Entscheidend hier seien viele Aspekte wie beispielsweise Zeugenaussagen oder die Frage danach, ob das Opfer durch den Tritt oder durch den Sturz so schwer verletzt wurde, dass es an den Folgen starb. Es gehe um die Beschaffenheit des Bodens, um den Blutalkoholgehalt des Beschuldigten und vieles mehr. Ab dem 14. August wird der Fall juristisch aufgearbeitet, zurzeit sind vier Verhandlungstage angesetzt. Familie Hollmann tritt als Nebenklägerin auf. Wie auch immer der Prozess ausgeht: Wenn das Urteil gesprochen ist, begibt sich Kerstin Hollmann in eine Trauma-Klinik. "Danach, so hoffe ich, kann ich zumindest wieder anfangen zu arbeiten. Daran ist im Moment noch nicht zu denken." Sonst sei sie immer gegen 5 in der Früh aufgestanden und habe bereits zwei Stunden später am Schreibtisch in Bielefeld gesessen. "Heute bin ich morgens wie gelähmt und kann froh sein, wenn ich um neun in der Lage bin, das Bett zu verlassen. Das hätte ich mir nie träumen lassen." Persönliche Nachricht in der Handyhülle gefunden Kerstin Hollmann schaut sich wieder in der Küche um, dieses Mal bleibt ihr Blick an den gerahmten Fotografien ihres Mannes hängen. "In jedem Zimmer haben wir Bilder von ihm", sagt sie. Dann berichtet sie von den vielen Formalitäten, die sie erledigen muss, um beispielsweise Halbwaisenrente für ihre Tochter zu bekommen. Oder finanzielle Unterstützung über das Opferschutzprogramm. Sie schüttelt mit dem Kopf: "Mir wurden stapelweise Formulare zugeschickt, die ich ausfüllen muss. Die wollen beispielsweise wissen, welche Grundschule mein Mann besucht hatte und ob er immer schon Kfz-Mechaniker werden wollte, oder auch mal einen anderen Berufswunsch gehabt hätte. Und davon gibt es noch viele Beispiele mehr. Aufgaben, die aufwändig sind und viel, viel Zeit kosten. So sieht's aus." Sieben Monate nach dem Vorfall vor der Friedrichshöhe habe die Familie noch keinen Cent erhalten. Dafür hat Kerstin Hollmann etwas anderes getan. "Neulich habe ich aufgeräumt und eine alte Handyhülle gefunden. Fast schon wollte ich sie wegschmeißen, aber dann fand ich einen Zettel darin, den ich mal von Ralf bekommen hatte." Kerstin Hollmann wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und lächelt zugleich. "Auf diesem Zettel stand in seiner Handschrift: Ich liebe dich." Und dann dreht sie ihren Unterarm um. "Ich bin bestimmt nicht der Typ, der sich Tattoos stechen lässt. Aber das musste sein: Ich habe mir diesen Satz auf den Unterarm tätowieren lassen - und es tut gut. So ist Ralf dennoch immer bei mir."

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