Gütersloh. "So paradox es klingt: Um mehr nachdenken zu können, müssen wir unsere inhaltliche Projektarbeit beschleunigen", begründet De Geus die Umstrukturierung der Stiftungsarbeit. Nur so könne die Denkfabrik ein wichtiger Impulsgeber für gesellschaftliche Veränderungen bleiben.
"Wir werden daher die Anzahl der Projekte in den kommenden Jahren signifikant reduzieren. Auch die Laufzeiten wollen wir verkürzen", sagt der erst vor einem Jahr von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris nach Ostwestfalen gekommene Europäer mit niederländischem Pass.
Er fühle sich wohl in der Region und sei herzlich aufgenommen worden in der Bertelsmann-Familie, sagt der 57-Jährige. Häufiger verbringe er auch seine Wochenenden in seiner Wohnung in der Bielefelder Altstadt, da Familie und Freunde gerne nach Deutschland reisen. "Das ist kein Kulturschock."
Ganz ohne Reibungen allerdings scheint es noch nicht zu laufen. De Geus kennt sich zwar bestens auf dem internationalen Diplomatenparkett aus, das Gütersloher Pflaster aber ist für den Niederländer ohne Bertelsmann-Sozialisation holprig. Als er kurz nach seinem Amtsantritt relativ spontan zu einer Mitarbeiterversammlung einlud, um eine 15-minütige Antrittsrede zu halten, wurde De Geus – wie zu hören ist – ausgebremst; von Liz Mohn persönlich. Er hatte vergessen, die Matriarchin vorab von seinen Absichten zu informieren und ihr anzubieten, auf der Versammlung auch ein paar Worte zu sagen.
Ebenso gewöhnungsbedürftig dürften für den Niederländer auch andere Stolpersteine sein, die das Gütersloher Pflaster bereithält. So tut sich De Geus noch schwer mit der deutschen Sprache. Sein Englisch ist perfekt, da sitzt jeder Fachbegriff und jede Redewendung. Sein Deutsch dagegen wirkt häufig noch unpräzise. Kein Wunder, dass der Chef in Arbeitsgesprächen bevorzugt englisch spricht. Das kommt nicht überall gut an. Etwa bei Liz Mohn. Die soll ihm in einer Sitzung in die Parade gefahren sein mit der Bemerkung: "Aart, wir sprechen hier deutsch."
Europas Einigung im Fokus der Arbeit
Eine Erweiterung der Sprachkompetenz hält De Geus aber für unabdingbar für die anstehende Internationalisierung der Stiftung. Wenigstens die Zusammenfassung der Publikationen müsse künftig von den Mitarbeitern auf Deutsch und Englisch erfolgen, sagte er auf der nachgeholten außerordentlichen Mitarbeiterversammlung am Freitag.In den vergangenen Monaten hat sich De Geus in die konzeptionelle Arbeit vertieft. Die Internationalisierung der Stiftungsarbeit ist für ihn das zentrale Thema. "Das ist zwingend notwendig, wie die Eurokrise zeigt", sagt er. Die Europäische Gemeinschaft dürfe nicht zu einer "Wirtschafts-AG" verkommen, schließlich sei sie "vor allem ein Werteraum". Zu diesem Thema hat er morgen an der Seite von Bundesaußenminister Guido Westerwelle im Berliner Auswärtigen Amt seinen ersten großen Auftritt auf der nationalen Bühne.
Zu dieser Veranstaltung platziert die Stiftung eine repräsentative Umfrage. Danach sagt nur noch etwas mehr als die Hälfte der Deutschen, dass sich für sie aus der Mitgliedschaft in der EU persönlich eher Vorteile ergeben. Zwei von drei Deutschen sind der Meinung, dass es ihnen persönlich besser ginge, wenn sie anstelle des Euro noch die D-Mark hätten.
Auf zu neuen Ufern
Für die Bertelsmann-Stiftung seien dies Alarmzeichen, so De Geus. Gegen die Popularität antieuropäischer Positionen will die Stiftung mit dem Programm "Die Vereinigten Staaten von Europa" Antwort geben. Dazu gehöre als Kernwert der europäischen Zivilisation praktizierte Solidarität. Diese drücke sich in der Arbeit der Bertelsmann-Stiftung unter anderem darin aus, dass man kontinuierlich an der Verbesserung des Bildungssystems zu mehr Chancengleichheit arbeite.De Geus will mit der Bertelsmann-Stiftung zu neuen Ufern aufbrechen – unbelastet von der Vergangenheit, da in Gütersloh an der neoliberalen Wende in Deutschland gearbeitet wurde. Das ist nicht das Format des Niederländers, der die Ideale der bürgerlichen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – hervorhebt. Doch hundertprozentige Gleichheit sei damit nicht gemeint. Schließlich kön-ne "Ungleichheit für eine Gesellschaft auch ein Motor und Antrieb zu Veränderungen und Wandel sein" – solange Chancengleichheit herrsche, sagte De Geus vor den Mitarbeitern.