Missbrauch im Sport: Gütersloher Athleten holen sich Hilfe beim Anwalt

Die Kommission zur Aufarbeitung von Kindesmissbrauch der Bundesregierung hat im vergangenen Herbst eine Studie vorgestellt. Es geht um sexualisierte Gewalt im Sport. Es ist die bislang größte Studie dieser Art in Deutschland. Die Leiterin der Studie, Bettina Rulofs von der Sporthochschule Köln, spricht &bdquo;von einem Bild des Sports, das viele nicht wahrhaben wollen.“ Teilen Sie diese Einschätzung? Horst-Peter Strickrodt: Absolut! Dem ist nichts hinzuzufügen. Wenn wir über sexuellen Missbrauch in Zusammenhang mit Kirche sprechen, stellt das niemand mehr in Frage. Im Sport anscheinend doch. Warum? Weil erst jetzt mehr Mut bei den Betroffenen aufkommt, sich zu den Ereignisse zu äußern. Die Dunkelziffer kennen wir nicht. Die Vorfälle in der Kirche und anderen gesellschaftlichen Kreisen sind nicht am Sport vorbeigegangen. Auch das Thema Entschädigungsansprüche wird den Sport einholen. Wir hinken mit der Öffentlichkeitsarbeit dieses Themas hinterher. Aber wir sind auf der Überholspur. Warum? Weil wir die Erkenntnisse der Aufklärungsszenarien der anderen gesellschaftlichen Bereiche kennen und für uns nutzbar machen können. Das heißt wir werden in den nächsten Jahren noch mehrere Fälle wie den von Wasserspringer Jan Hempel erleben, der den Deutschen Schwimmverband auf einen hohen Betrag verklagt? Hundertprozentig. Und wir werden definitiv nie Klarheit darüber haben, wie viele Fälle es wirklich gab. Die Kirche hat viele Jahre gebraucht, um die Fälle von Missbrauch aufzudecken. Ich glaube, dass dieses Thema auf die Sportvereine und vor allem auf die Karrierevereine richtig zurollt. Profis wie Gitte Axmann von &bdquo;Anlauf gegen Gewalt“, einer unabhängigen Anlaufstelle für Athleten, oder auch der Kinderschutzbund raten den Betroffenen inzwischen häufig davon ab, Strafanzeige zu stellen. Wie stehen Sie dazu? Wenn man Betroffener ist, erwartet man von einer Strafanzeige eine strafrechtliche Verfolgung und im optimalen Fall eine gerechte Bestrafung der Täter. Wenn die nicht stattfindet, weil über 90 Prozent der Fälle eingestellt werden in Deutschland, dann ist der Rat wahrscheinlich nicht verkehrt. Was passiert denn in einem solchen strafrechtlichen Verfahren? Die Opfer werden von der Polizei vernommen, von der Staatsanwaltschaft, dann gibt es vielleicht ein Gutachten und am Ende stellt man fest, dass alles nicht so schlimm war. Es stellt sich die Frage, ob das einer psychologischen Verarbeitung dient oder eher schadet. Das ist zwar nachvollziehbar, aber dennoch ein Rückschritt. Dann bleiben Fälle sexualisierter Gewalt im Dunkeln. Der Ansatz ist, dass man die Politik wachrütteln möchte. Politik reagiert bislang wenig bis gar nicht. Und wenn unsere strafrechtlichen Mechanismen, die wir haben, den Gerichten nicht ausreichen, um solche Taten zu sanktionieren, dann muss die Politik zum Handeln angestoßen werden. Der Gesetzgeber ist aus meiner Sicht in den ganzen Kirchenfällen bisher nicht akut unterwegs gewesen. Wir sind ja beim Sport nicht der Gesellschaftsbereich par excellence. Da werden noch mehrere kommen. Wo erwarten Sie weitere Fälle von sexualisierter Gewalt, die an die Öffentlichkeit kommen? Schule, Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen. Die Fälle aus Bethel kennen wir bereits. Überall dort, wo sich Machtgefüge auftun, ist mit Fällen von Missbrauch und sexueller Gewalt zu rechnen. Sie haben in einem Vortrag in Gütersloh den Fall einer jungen Sportlerin vorgestellt, der dramatisch war. Auch er wurde eingestellt. Das Mädchen war damals 16 und hat einen muslimischen Hintergrund. Der Trainer hat zu ihr gesagt, &bdquo;ich bring dir nicht nur Training bei, sondern auch Sex.“ Es ging bis hin zu extremen Handlungen. Strafrechtlich eingefangen wurde das alles nicht. Also schafft man potenziellen Tätern Raum für solche Handlungen. Wenn das &bdquo;Schule“ macht, werden die Fälle nicht weniger. Ich kenne diese Fälle aus dem Boxsport. Ich weiß, dass sie immer, wirklich immer im Zusammenhang mit Macht stehen. Entweder man tut was verlangt wird, oder man kann die Teilnahme an der Europameisterschaft oder anderen Meisterschaften vergessen. Laut Studie kommen die meisten Betroffenen aus den Sportarten Turnen und Fußball. Warum Fußball? Beim Fußball sind wir beim Thema Macht, hier geht es um Karrieren. Bei den Sportlerinnen und Sportlern schwingt oft die Erwartungshaltung mit, dass sie damit richtig gutes Geld verdienen können. Ich kenne 17-jährige Fußballer, die schon Millionäre sind. Da kommt man nicht hin, wenn man nicht gewisse Hürden überspringt. Allein mit der nüchternen, sportlichen Leistung schafft man das nicht. Man braucht Befürworter, man braucht Protegés, man braucht Kontakte. Die hat man als Jugendlicher nicht, die hat aber der Trainer oder das Management. Wenn die ihre Machtposition erkennen, dann kann Missbrauch passieren. Es sind immer Machtspiele. Gibt es Strafanzeigen wegen sexualisierter Gewalt aus dem Bereich Gütersloh, die Ihnen bekannt sind? Aktuell nicht. Gibt es Fälle von Gütersloher Sportlerinnen und Sportlern, die sich bei ihnen anwaltliche Hilfe geholt haben? Ja, davon gibt es mehrere. Es gibt weibliche Fälle, es gibt aber aktuell auch einen männlichen Fall. Kommen die alle aus dem Fußball? Name, Sportart oder Verein kann ich nicht nennen. Ich bitte um Verständnis. Wie geht es diesen Personen aktuell? Sie machen auf mich einen stabilen Eindruck. Das liegt sicherlich auch daran, dass wir sehr schnell unser Netzwerk involviert haben. Der Anwalt ist das eine, aber das Paket der Hilfen durch Freunde, Familie und Psychologen schnüren wir so schnell es geht. Im Herbst letzten Jahres hat sich der Verein ARGE SportNet OWL gegründet, dessen Vorsitzender Sie sind. Sie bieten Beratung für Sportler und liefern durch das Netzwerk von Rechtsanwälten, Psychologen, Richtern gleich die passenden Ansprechpartner. Funktioniert das? Aus meiner Sicht funktioniert es gut. Als Boxer und als Rechtsanwalt würde ich am liebsten angreifen, aber man muss das Opfer mit seinen Bedürfnissen sehen. Hilfe ist wichtig, Strafanzeige nicht. Ich kann sehr schnell einschätzen, ob die Beweise für eine Anklage reichen, oder ob es für eine Verurteilung reicht. Ist der Fall zwei Jahre alt, kann ich jetzt schon mit großer Sicherheit sagen, es gibt kaum eine Chance für eine Verurteilung. Also liegt die Priorität darauf, den Opfern zu helfen und wieder Fuß zu fassen. Bettina Rulofs ist zu der Erkenntnis gekommen, dass die Gesellschaft nicht die Opfer, sondern die Täter, sprich die Trainer schützt. Teilen Sie diese Erfahrung? Ja. Wir haben in Gütersloh im Mai einen Workshop abgehalten, um die Sportvereine zu sensibilisieren. Ich habe alle aufgefordert, sich um das Thema sexuelle Gewalt im Sport präventiv zu kümmern. Aber das Thema scheint nicht anzukommen. Und wie war die Resonanz der Vereine? Die sind der Meinung, dass sie das Thema zusätzlich nicht auch noch leisten können. Ich war extrem erschrocken. Ich musste mir eine Menge Kritik anhören von zwei Vereinen, die vor Ort waren. Aber jeder möge sich mal vorstellen, dass es die eigene Tochter ist, der sexuelle Gewalt im Verein widerfährt. Was würden Sie erwarten, was der Verein dann tut? Diese Frage darf sich auch jeder Trainer mal stellen. Vereine müssen das Thema aufgreifen. Sie kommen gar nicht drumherum. Es gibt eine steuerliche Pflicht, die Buchhaltung zu erledigen, aber gibt es nicht auch eine ethisch-moralische Pflicht, Kinder und Jugendliche zu schützen auch wenn es noch nicht im Gesetz steht? Wird die Prävention zur gesetzlichen Pflicht werden? Das wird kommen. Gesetz und Recht fallen nie zusammen, das Gesetz hinkt immer ein wenig hinterher. Vereine haben die einmalige Chance mit dem Institut der Verbandsautonomie schneller zu sein als der Gesetzgeber. Die Vereine können regeln, wo die ethisch-moralischen Grenzen sind. Da muss niemand auf den Gesetzgeber warten. Jetzt mal konkret: Was können Vereine tun? Es betrifft vorrangig Trainerinnen und Trainer als Täter. Man kann sie streng reglementieren, noch bevor sie ihren Job antreten. Es geht darum, dass sie so wenig Chancen wie möglich haben, ihre Machtstellung auszuüben. Das fängt beim Vertragsrecht an. Ich kenne viele Trainer, die haben gar keinen schriftlichen Arbeitsvertrag und damit auch kein Regelwerk. Das ist essenziell wichtig. Dazu kommen Complience-Regeln, also Verpflichtungserklärungen mit Sanktionsandrohung. Regelmäßige Kontrollen, Gespräche mit den Trainerinnen und Trainern, separate Gespräche mit den Sportlerinnen und Sportlern und dem Team. Sie reden auch vom Dorffußballverein mit Mini-Kicker-Trainer, oder? Natürlich. Breitensport und Leistungssport kann man bei dem Thema nicht trennen. Solche Prozesse der sexuellen Gewalt kommen nicht per Fingerschnipp, sondern entwickeln sich über die Zeit hinweg. Die Täterstruktur entsteht sukzessiv. Aber sie machen es nicht dort, wo sie merken, dass sie keine Chance haben. Wenn das Opfer es nicht zulässt oder die Strukturen es einfach nicht erlauben. Die ARGE Sport-Net berät Vereine gerne, die sich mit dem Thema überfordert fühlen. Und die Mitglieder machen es nicht, um damit Geld zu verdienen, sondern um zu helfen, kostenfrei. Was halten Sie davon, Trainer und Trainerinnen die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten nur nach Vorlage eines polizeilichen Führungszeugnisses einzustellen? Davon halte ich nicht besonders viel. Was soll das bringen? Klar, es verhindert, dass der verurteilte Sexualstraftäter Kinder trainiert. Aber die sind es nicht. Das nützt uns nicht viel. Wir brauchen Regeln, mit denen wir einigermaßen sicherstellen können, dass die Übergriffe nicht passieren. Der zweifach verurteilte Sexualstraftäter wird niemals bei uns im Boxverein Trainer werden. Er wird sich nicht mal bewerben. Außerdem muss das Führungszeugnis einmal abgegeben werden, dann gilt die Trainingserlaubnis bis zum Sankt Nimmerleinstag. Die unterschwelligen Taten sind im Führungszeugnis gar nicht notiert. Ein Trainer kann also schon 15 mal auffällig gewesen sein, im Führungszeugnis steht das deshalb nicht. Sind Eltern womöglich auch zu ehrgeizig? Ja, sogar mit einer hochprozentigen Quote. Bei den Leistungssportlern die wir kennen, ist es häufig so. Es kann auch kaum anders sein. Ein Florian Hambüchen wäre nicht Olympiasieger geworden, wenn er nicht diesen ehrgeizigen Vater gehabt hätte. Die Kinder werden erfolgreich und auch selbstbewusst, wenn das Elternhaus das hundertprozentig unterstützt. Aber das darf nicht zu einem Missbrauch des Kindes führen. Was passiert mit den zu unrecht beschuldigten Trainerinnen und Trainern? Das macht auch ein Leben kaputt, oder? Ja, das ist heftig. Von der Psychologie und Betroffenheit erlebe ich das ähnlich intensiv wie bei den Opfern auf der anderen Seite. Gehören auch Trainer zu Ihren Mandanten? Ja. Ich vertrete aktuell zwei Fälle von Trainern, denen etwas vorgeworfen wird. Ich sehe das Thema deshalb nicht nur von einer Seite, ich reflektiere beide. Kommen die aus dem Gütersloher Raum? Ja. Was rollt jetzt auf die beiden zu? Zum Teil ist schon etwas auf sie zugerollt, zum Teil erwarten sie das Zurollen, können es aber gar nicht einordnen. Viele Trainer wissen nicht, was ihnen in einem solchen Fall passieren kann. Hätte der Verein Regeln aufgestellt, würde das anders aussehen. Weil es kein Rüstzeug gibt, fragen sich Trainer plötzlich, ob sie wegen der Anschuldigungen morgen abgeholt und eingesperrt werden können. Diese Unsicherheit ist für die Betroffenen schwer auszuhalten. Das macht Menschen krank. Fühlen sich diese Trainer auch vom Verein verraten? Es gibt Vereine, die negieren mit Sätzen wie &bdquo;ach, das macht der Otto doch nicht“. Und dann gibt es Vereine, die gleich rigoros dazwischen schlagen, ohne rechtsstaatliches Verfahren. Das eine ist so falsch wie das andere. Das Thema sexuelle Gewalt im Sport ist sensibel und schwierig, es tangiert viele Lebensbereiche. Deshalb ist es wichtig, dass man es angeht und nicht liegen lässt. Viele Vereine hoffen, dass der Kelch an ihnen vorüber geht. Ich mache seit 30 Jahren Vorstandsarbeit im Gütersloher Box Club. Ich weiß wie sehr einen das Tagesgeschäft auffrisst. Gemäß dem Fall ein Spitzenverein wie der FSV Gütersloh oder SC Verl hätte einen Fall von sexueller Gewalt, der öffentlich würde, ist der Verein für alle Zeiten beschädigt? Ich glaube nicht. Entscheidend ist, wie ein Verein mit solchen Themen umgeht, ob er seiner Verantwortung gerecht wird. Hier ist ein Vergleich mit der Kirche erlaubt. Wenn die mit dem Thema Missbrauch pro aktiv umgehen würde, würden sie besser dastehen. Ein Vereinsvorstand ist ja nicht zwangsläufig verantwortlich für einen Vorfall, aber das Thema zu ignorieren und nichts zu tun ist fahrlässig. Dann komme ich durchaus in die Haftungsfrage. Sie fordern auch eine Veränderung der Strukturen im Sport. Warum? Wir haben in Deutschland das Ein-Platz-System, das heißt, es gibt pro Sportart nur einen Spitzenverband. Wer beim Judo oder in der Leichtathletik nicht funktioniert, dann war’s das mit der Karriere. Keine Chance. Viele versuchen in andere Länder auszuweichen, aber das klappt selten. Solange wir also an diesem System festhalten und keine Kontrollmechanismen nach dem Prinzip der Gewaltenteilung haben, wird eine Verbesserung nicht funktionieren. Gibt es Sportarten, die vorbildlich agieren? Flächendeckend kann ich das nicht überblicken, aber wer es gut macht, ist der Kanuverband. Er hat schon vor weit mehr als zehn Jahren angefangen, über das Thema zu diskutieren und zu regeln. Sie waren Schrittmacher. Die anderen Verbände benötigen jetzt einen Weckruf.

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