Wie wahrscheinlich ist ein Blackout in Gütersloh? Energie-Experte liefert Antworten

Paris bereitet sich auf einen Blackout vor. Das ist weit weg. Die Kreisverwaltung Gütersloh tut es aber auch. Herr Primon, erwarten Sie, dass es im Winter in Gütersloh dunkel wird, weil kein Strom mehr vorhanden ist? Thomas Primon: Gegenwärtig dürfen wir kein Szenario ausschließen. Daher ist es unsere Pflicht gegenüber den Bürgern, uns auch mit der Situation eines gravierenden Strommangels zu beschäftigen. Das Thema Blackout nehmen auch wir sehr ernst und bereiten uns seit Wochen bestmöglich vor. Können Sie konkret verraten, was Sie tun? Ist so eine Vorbereitung rein theoretisch oder auch sehr praktisch? Sowohl, als auch. Die Vorbereitungen auf länger anhaltende Energieausfälle sind für uns nicht neu. Sie stehen immer schon in unserem Pflichtenheft, zum Beispiel für den wichtigen Bereich der Wasserversorgung. Aber auch in anderen Bereichen betreiben wir praktische Vorsorge, halten Notstromaggregate rund um die Uhr betriebsbreit, und testen sie regelmäßig. Durch die neue Situation ist eine noch umfangreichere Abstimmung und Vorbereitung notwendig. Diese kann teilweise nur theoretisch erfolgen. Eigens eingerichtete Krisenstäbe nehmen sich dieser Aufgabe an und tauschen sich entsprechend aus. Unsere Experten berechnen unter anderem anhand unterschiedlicher Szenarien die einzuleitenden Prozesse, Maßnahmen und deren Auswirkungen. Welche Rolle spielen elektrische Heizlüfter, die augenscheinlich massenhaft in privaten Haushalten bevorratet werden? Sie spielen eine Rolle. Im Schnitt hat ein Heizlüfter eine Leistung von 2.000 Watt. Stellen Sie sich vor, was in einem Haushalt oder einem Mehrfamilienhaus passiert, wenn mehrere Geräte gleichzeitig betrieben werden? Und rechnen Sie das dann auf eine Straße, ein Wohngebiet oder eine Stadt wie Gütersloh hoch. Unsere Stromnetze sind auf solche Lasten nicht vorbereitet. Im Haus selbst sind aber auch Probleme vorprogrammiert: Im günstigsten Fall reagiert der FI-Schalter im Schaltkasten und die Sicherung fliegt raus. Im ungünstigsten Fall können alte Stromleitungen in den Wohnungen überhitzen. Wir sind es gewohnt, dass private Räume, Büros und Einrichtungen aller Art Wohlfühltemperaturen um die 22 Grad haben. Wollpullis sind kaum zu ertragen. Warum sollten wir uns in diesem Winter trotzdem besser warme Sachen zum Anziehen kaufen? Ganz einfach, weil es Sinn macht. Öffentliche Räume werden mit maximal 19 Grad Celsius beheizt. Das ist okay, aber nicht warm. Zuhause dauerhaft und auch in ungenutzten Räumen 22 Grad zu haben, ist weder sinnvoll, noch wirtschaftlich. 1 Grad Temperaturabsenkung erspart rund sechs Prozent Energieeinsatz. Das hilft uns allen bezogen auf die Energie, die knapp sein wird. Und angesichts der Preise liegt es auf der Hand, dass der Zwiebel-Look ein Comeback erleben wird. Zumindest gilt das für mich. Ist die Ernsthaftigkeit der Lage eigentlich bei den Menschen schon im Bewusstsein angekommen? Bei vielen Menschen in Gütersloh ist die Dringlichkeit durchaus angekommen und Energiesparen wird auch praktiziert. An eine komplette Durchdringung der Gesellschaft mit dieser harten Botschaft glaube ich hingegen nicht. Daher müssen wir auch weiterhin aufklären und appellieren, Energie sinnvoll einzusetzen. Der Gasspeicherfüllstand darf uns nicht zu dem Trugschluss verleiten, alles wäre gut. Das wäre fatal. Jede Kilowatt-Stunde die wir jetzt nicht nutzen, hilft uns allen, über den Winter zu kommen. Mal ehrlich: ist es ratsam, ein paar Kerzen zu bevorraten, weil wir alle damit rechnen müssen, dass kein Strom mehr fließt und es dunkel wird? Wie gesagt, das könnte passieren. Aber: Es liegt mir nicht daran, hier ein Schreckensbild zu malen. Bei aller Brisanz müssen wir besonnen und vernünftig bleiben. Lassen Sie es mich &bdquo;Neue Vernunft“ nennen. Zu ihr gehört Vorsorge. Und damit gehören Kerzen, Taschenlampen, Decken und bestimmte Lebensmittel-Vorräte immer schon zur Grundausstattung eines jeden Haushalts. Nicht nur im Winter. Die Stadt wird das Straßenlicht nachts für mehrere Stunden ausschalten. Das Rathaus plant, nur noch an drei Tagen zu öffnen, um Energie zu sparen. Sind das jetzt wirklich die Maßnahmen, die uns helfen, Strom zu sparen? Zunächst einmal ist es sinnvoll, alles infrage zu stellen. Straßenbeleuchtungen, Nutzung von Bürogebäuden, Flutlichtspiele. Immer aber gilt: Was macht Sinn, was kann ich technisch umsetzen, was passiert, wenn ich die Maßnahme umsetze. Ein Beispiel: Büros wegen stark abgesenkter Temperatur nicht zu nutzen, bedeutet ja nicht, dass die gesparte Energie dann nicht woanders verbraucht wird, nämlich in den Privatwohnungen. Also kommt es darauf an, eine Gesamtbilanz zu erstellen. In diese fließt dann beispielsweise auch ersparte Energie für die Fahrten zur Arbeitsstätte ein. Auch wir bei den Stadtwerken prüfen, ob wir hier den Hebel wirkungsvoll ansetzen können. Allerdings müssen wir dabei immer auch im Blick behalten, dass wir für die Sicherstellung der Versorgung Güterslohs rund um die Uhr vor Ort einsatzbereit sein müssen. Sind alle Haushalte und Unternehmen mit Photovoltaik auf dem Dach die lachenden Gewinner dieses Winters? Die Formulierung mag ich nicht. Unterstellen wir, dass das öffentliche Stromnetz funktioniert: Dann leisten PV-Anlagen einen sehr wichtigen Beitrag, Energie durch Eigenentnahme zu sparen, beziehungsweise durch Einspeisung in das öffentliche Netz für die Allgemeinheit bereitzustellen. Das ist ja das aktuelle Modell. Und es funktioniert sehr gut, und es wächst. Der Knackpunkt aber ist, dass die Anlagen in aller Regel auch Strom aus dem öffentlichen Netz benötigen. Nur dann läuft der Wechselrichter, nur dann lädt der Batteriespeicher, nur dann funktioniert auch die Wallbox. Nur wenige private PV-Anlagen haben eine durch den Batteriespeicher sichergestellte Notstromversorgung. Kurzum: Sonne allein hilft uns nicht. Am 1. Oktober greifen die angekündigten Preissteigerungen. Blicken Sie mit Sorge auf dieses Datum? Die klare Antwort lautet ja. Schon seit Monaten beschäftigt mich die Preisspirale, die viele Menschen und Unternehmen in Gütersloh vor große Herausforderungen stellen wird. In meiner Funktion als Mitarbeiter der Stadtwerke sehe ich seit Monaten explodierende Marktpreise. Und ich kann sie nicht beeinflussen. Es bleibt mir keine Wahl, außer sie an unsere Kunden weiterzugeben, damit die Stadtwerkesolide und zuverlässig funktionieren. Das ist ein Spagat, der mich sehr viel Kraft kostet. Denn hinter jeder Rechnung steckt letztlich eine Person, eine Familie, jemand, der vielleicht keine Reserven mehr hat. Das treibt mich um. Und mich treibt auch um, was das alles mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern macht. Die zunehmende Arbeitslast ist das eine, aber die steigende psychische Belastung ist neu für uns alle. Aber wir werden uns nicht wegducken. Wir gehen mit großen Schritten auf die Weihnachtszeit zu. Ab Ende November leuchten in der Regel die Lichterketten an sämtlichen Straßen, Schaufenstern und natürlich auch zuhause. Wie sollen wir dieses Jahr damit umgehen? Wir müssen auch diese Maßnahme hinterfragen. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass zwei harte Pandemie-Jahre hinter uns liegen – ohne das gewohnte Weihnachtserlebnis. Menschen sehnen sich nach der Weihnachtszeit und dem Stimmungsbild. LED-Beleuchtungen allein sind nicht die Antwort auf die Frage, Energie einzusparen. Also brauchen wir Lösungen, die beides bieten: Lichterglanz bei weniger Energieeinsatz, zum Beispiel durch weniger Lichterketten, eingeschränkte Beleuchtungszeiten, vielleicht einem zentral geschmückten Weihnachtsbaum anstatt dutzender kleiner Tannen, weniger Lichterschmuck in den Geschäften – und auch zuhause. Strom kommt aus der Steckdose, die Heizung ist warm, wenn man sie aufdreht. Sind wir eigentlich alle verwöhnt, Herr Primon? Ja, das sind wir. Ich auch. Und zwar auf einem extrem hohen Niveau. Seit der Ölkrise in den 1970ern haben wir uns weder um die Verfügbarkeit von Energie, noch um ihren Preis großartig Gedanken gemacht. Das hat sich jetzt geändert. Nun geht es darum, die eigene Komfortzone neu zu definieren. Sinnvolles Heizen und vernünftiger Umgang mit Energie gehören dazu. Denn die Energiekosten werden für einen längeren Zeitraum einen großen Teil unserer Lebenshaltungskosten ausmachen. Müssen wir nur irgendwie über den Winter kommen oder müssen wir radikal und dauerhaft unser Verhalten ändern? Letzteres. Wir müssen umdenken, es gibt dazu keine andere Meinung. Der kommende Winter ist ja nur der Anfang. Entscheidender ist nämlich die Vorbereitung auf den Winter 2023/2024. Der Grund liegt auf der Hand, denn die Gasspeicher werden im Frühjahr nächsten Jahres leer sein und müssen dann wieder gefüllt werden. Wie, und vor allem wie schnell, ist heute ungewiss. Wir sprechen hier also nicht vom einem Sprint, sondern mindestens von einem Marathon. An der Wegstrecke stehen dann auch LNG-Terminals, massiv ausgebaute Anlagen zur Erzeugung Erneuerbarer Energie und immer wieder das Wort &bdquo;Sparen“. Schätzen Sie mal: wo wird der Strompreis für die Kilowattstunde nächstes Jahr um diese Zeit stehen? Das kann auch ich Ihnen nicht beantworten. Was ich aber weiß und täglich in Gesprächen spüre, ist, dass die Schmerzgrenze erreicht ist. Wir brauchen dringend mehr Strom, der zu akzeptablen Einkaufspreisen an den Börsen gehandelt wird. Denn genau das ist seit Monaten nicht mehr der Fall. Und ja, auch das gehört zur Wahrheit dazu: Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir die niedrigen Energiepreise der Vergangenheit auf längere Sicht nicht wieder erreichen werden. Erwarten Sie eine Insolvenzwelle bei Gütersloher Unternehmen? Dieser Frage weiche ich nicht aus. Eine genaue Antwort kann ich Ihnen nicht geben. Aber so viel steht fest: Quer durch alle Handwerks-, Dienstleistungs- und Industriebereiche ist auch hier die Belastungsgrenze erreicht. Der dramatisch angestiegene Anteil der Energiekosten macht in manchen Branchen ein wettbewerbsfähiges Angebot schon jetzt kaum noch möglich. Dabei ist zu bedenken, dass es insbesondere Unternehmen waren und sind, die bereits massiv Energiesparmaßnahmen umgesetzt haben. Wir stehen hier vor einer riesigen Belastungsprobe. Sie fordern ein Ende der Kirchturmpolitik. Es braucht nicht jede Kommune eine eigene Saunawelt, ein eigenes Freibad. Ist das Eigenmarketing für die Welle oder plädieren Sie ernsthaft für weniger Schwimmbäder im Kreis Gütersloh? Wohin hat uns Kirchturmpolitik gebracht? Geben Sie sich die Antwort bitte selbst. Mir geht es nicht darum, einzelne Standorte infrage zu stellen, das steht mir nicht zu. Lassen Sie mich zunächst etwas zu den Schwimmbädern sagen: Sie gehören zur Daseinsvorsorge. Damit meine ich nicht nur das wichtige Schulschwimmen, das durch Corona monatelang ausfallen musste. Freizeitbäder und Saunabereiche müssen sicher anders betrachtet werden, keine Frage. Was wir für diese Freizeitangebote brauchen, sind klare zentrale Vorgaben. Alleingänge machen hier keinen Sinn. Die Bürgerinnen und Bürger der Region haben die berechtigte Erwartungshaltung, dass wir die Köpfe zusammenstecken und über Kirchturmgrenzen hinweg Lösungen anbieten. Und es ist ja nicht so, als fände das nicht bereits statt. Erleben Sie gerade eine Renaissance der guten alten Stadtwerke, weil sie am Ende doch verlässlicher sind als alle anderen Energielieferanten? Renaissance klingt spannend; zumindest erfreuen wir uns heute noch an den Bauten dieser Epoche. Ja, ich bin fest überzeugt, dass Stadtwerke diese schwierige Situation meistern können und viele auch werden. Weil sie einen besonderen Antrieb haben, so wie die Stadtwerke Gütersloh: Wir sind von hier, wir stehen für die lokale Entwicklung ein. Wir gehören der Bürgerschaft. Das macht den Unterschied. Das gibt unseren knapp 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Kraft, jeden Tag aufs Neue alles für diese Stadt zu geben. Und daher werden wir gemeinsam mit den Menschen dieser Stadt die Herausforderungen meistern. Herr Primon, gibt es vielleicht eine klitzekleine gute Nachricht von Ihrer Seite? Ja, die gibt es. Mir haftet ja der Ruf an, dass ich Realist sei. Und deshalb sage ich voller Überzeugung, dass wir diese Phase gemeinsam überstehen werden. Und wir werden einen gesellschaftlichen Schulterschluss erleben. Er wird in alle Lebensbereiche eine ungeahnte Dynamik spülen, insbesondere bezogen auf Erneuerbare Energien, marktfähige Erzeugungstechnologien, neue Mobilitätskonzepte und regionale Versorgungs-Konzepte. Und wir werden noch etwas sehr Positives erfahren: Ein neues Denken, das sich durch alle Gesellschaftsschichten zieht und das zwei wichtige Ankerpunkte hat: Wertschätzung und Nachhaltigkeit.

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