Tönnies-Lockdown 2020: Der Streit ist noch nicht beendet

Kreis Gütersloh. 17. Juni vor einem Jahr: Corona-Tests beim Schlachtkonzern Tönnies in Rheda-Wiedenbrück haben rund 400 Neuinfektionen aufgedeckt. Die Zahl steigt auf mehr als 1.500 Infizierte. Dann geht alles Schlag auf Schlag. Nach dem massenhaften Ausbruch des Coronavirus unter den Beschäftigten des Schlachtbetriebs Tönnies zieht der Kreis Gütersloh die Reißleine. Alle 7.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen in Quarantäne, Landrat Sven-Georg Adenauer (CDU) macht den Laden vorübergehend dicht. Bis zu den Sommerferien dürfen auch Kitas und Schulen nicht mehr öffnen. Die 7-Tage-Inzidenz im Kreis steigt in Richtung 300. Urlaubsregionen in Deutschland machen vor Touristen aus dem Kreis Gütersloh die Schotten dicht, Menschen aus der Region sind nicht mehr willkommen. Die emotionalen Wogen rund um das Ausbruchsgeschehen haben sich mittlerweile geglättet. Was geblieben ist, ist die juristische Auseinandersetzung: Nach etwa 50 Anzeigen gegen die Tönnies-Geschäftsführung – darunter auch Clemens Tönnies – ermittelt die Staatsanwaltschaft Bielefeld. Dabei geht es um fahrlässige Körperverletzung und Verstöße gegen das Infektionsschutzgesetz. Nach Angaben von Sprecher Moritz Kutkuhn sind die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen. Klagewelle bei den Verwaltungsgerichten Wegen der Schließungsverfügung für das Werk in Rheda-Wiedenbrück war der Tönnies-Konzern vor das Verwaltungsgericht Minden gezogen. Nach Angaben einer Gerichtssprecherin liegt derzeit (Stand Juni 2021) noch keine Klagebegründung vor. Um diese einzureichen, hatte Tönnies weitere Akteneinsicht in die Verwaltungsvorgänge des Kreises beantragt. Zwischen der Fleischindustrie und dem Land Nordrhein-Westfalen hatte sich ein Streit um die Erstattung von Verdienstausfall entwickelt. Das NRW-Gesundheitsministerium hatte den Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) angewiesen, entsprechende Anträge abzulehnen. Laut Infektionsschutzgesetz können Betriebe Entschädigungen beantragen, wenn die Unternehmen durch die Behörden geschlossen wurden. Daraufhin erreichte die Verwaltungsgerichte eine Klagewelle. In Minden und Münster sind es den Angaben nach jeweils mehrere Hundert Fälle. Um der Masse der Verfahren Herr zu werden, einigten sich die Beteiligten in Minden auf ein Musterverfahren. In Münster wird derzeit sondiert und in Absprache mit den Unternehmen nach vergleichbaren Fällen gebündelt. Wie blickt die Gütersloher Stadtspitze auf die damaligen Ereignisse? Die NW fragt Bürgermeister Norbert Morkes: Welche Erinnerungen sind bei Ihnen vom sogenannten Tönnies-Lockdown haften geblieben? Norbert Morkes: Hier kann ich nur als Privatmensch und ehemaliger Fraktionsvorsitzender antworten, denn vor einem Jahr war ich noch nicht Bürgermeister. Ich erinnere mich noch lebhaft an die Ungläubigkeit, mit der ich diese innerhalb kürzester Zeit steil anwachsenden Infektionszahlen und das, was daraus resultierte, registriert habe. Als andere Länder ein Einreiseverbot für Menschen aus dem Kreis Gütersloh verhängten und es plötzlich ein Unding war, Gütersloher zu sein, da dachte ich, ich wäre im falschen Film, und ich weiß, dass das ganz vielen anderen genauso ging. Da war so eine Hilflosigkeit, man fühlte sich so ausgeliefert. Aus der Stadtverwaltung weiß ich, dass dort der Ausnahmezustand herrschte. Von heute auf morgen wurde von meinen heutigen Kolleginnen und Kollegen der professionelle Umgang mit einer Situation verlangt, die niemals zuvor dagewesen war. Da haben viele ins Rad gegriffen, haben Tag und Nacht gearbeitet. Und das alles unter dem Brennglas der örtlichen, nationalen und internationalen Medien, die auch nicht immer korrekt berichtet haben, zum Beispiel immer wieder den Kreis Gütersloh mit der Stadt Gütersloh verwechselt haben oder den Sitz der Firma Tönnies nach Gütersloh verlegt haben. Gütersloh und seine Nachbarstädte standen wochenlang im Zentrum der Corona-Krise und das war eine extreme Herausforderung. Welchen Einfluss hat der Konzern auf die große Nachbarstadt Gütersloh? Als Stadt Gütersloh erhalten wir keinerlei Gewerbesteuereinnahmen von Tönnies, da die Firma ja in Rheda-Wiedenbrück sitzt. Auf der anderen Seite ist seit einigen Jahren ein kontinuierlicher Anstieg des Zuzugs von Menschen aus Rumänien, Bulgarien und Polen nach Gütersloh zu verzeichnen. Einen erheblichen Anteil stellen die (ehemaligen) Werkvertragsarbeitnehmer und ihre Familien. Viele werden dauerhaft hierbleiben. Die Integration gestaltet sich oft schwierig. Für Deutschkurse oder Integrationskurse, in denen ihnen Alltagswissen und Kenntnisse über unsere Kultur, unsere Rechtsstaatlichkeit etc. vermittelt würden, haben die meisten keine Zeit, weil sie arbeiten, oft im Mehrschichtbetrieb. Die Verständigung mit den Erwachsenen und Kindern, zum Beispiel wenn sie in die Verwaltung kommen oder in Schule und Kita, ist eine enorme Herausforderung. An den Schulen haben wir daher bereits die Schulsozialarbeit aufgestockt. Insgesamt sehe ich eine klare Mitverantwortung von Unternehmen, die Menschen aus Südosteuropa beschäftigen, dafür, künftige Integrationsmaßnahmen in Gütersloh mitzufinanzieren. Welche Abstimmung gibt es zwischen den Bürgermeistern? Im Rahmen der Bürgermeisterkonferenz gibt es einen regelmäßigen Austausch, aktuell insbesondere in Bezug auf den Wunsch des Unternehmens Tönnies, Immobilien für Beschäftigte zu akquirieren. Wie ist das direkte Zusammenspiel mit Clemens Tönnies? Es besteht ein konstruktiver Austausch zwischen der Stadt Gütersloh und der Firma Tönnies. Vor allem sind wir aber auch in einem regelmäßigen, kollegialen Austausch mit der Nachbarstadt Rheda-Wiedenbrück. (mit dpa)

Meistgelesen