Bürgermeisterkandidat Volker Richter: "Henning Schulz hat seine Chance gehabt"

Herr Richter, als Schulz-Herausforderer geht auch an Sie die Frage: Was läuft verkehrt im Bürgermeisteramt?Volker Richter: Vieles geht zu langsam. Beispiel Bürgerhaus Blankenhagen: 2015 haben wir das Handlungskonzept beschlossen. Und jetzt? Ist das Bürgerhaus nicht mal rechtzeitig zum Blankenhagener Jubiläumsjahr 2022 fertig. Weiteres Beispiel: Wir haben die abgebrochene Brücke über den Westring. In Italien, Genua, haben sie nur zwei Jahre gebraucht, um ein viel größeres Bauwerk zu ersetzen. Und hier? Die Stadt sollte eine Ermöglichungsbehörde sein, keine Verzögerungsbehörde. Mal angenommen, es stimmt, dass die Dinge hier so lange brauchen. Woran liegts?Richter: Ich habe den Eindruck, bei Herrn Schulz stehen die Menschen nicht im Mittelpunkt. Auch dafür gibt es Beispiele. Wir haben hier in Gütersloh eine Insolvenzberatung. Nicht wegen, sondern trotz des Bürgermeisters. 2018 brauchte die Diakonie dafür Geld, weil das Land Insolvenzberatungen nicht ausreichend finanziert hat. Es ging gar nicht um viel, 20.000 oder 25.000 Euro pro Jahr. Schulz aber lehnte das ab und riet den Leuten, zur Beratung nach Halle zu fahren. Ich verstehe eine solche Haltung nicht. Hier kam man einer dreistelligen Zahl an Menschen helfen, ihrer prekären Lage zu entkommen. Viele sind unverschuldet hineingeraten, durch Pleite, Arbeitsplatzabbau, Krankheit, Scheidung. Wie man bei einem Haushalt in dreistelliger Millionenhöhe einen solchen Betrag ablehnen kann, ist mir unbegreiflich. Zum Glück hat die Mehrheit des Rates das auch so gesehen. Sollten Sie Bürgermeister werden, was gehen Sie als erstes an?Richter: Ach, es gibt so viele Baustellen. Wir haben in Gütersloh über 2.000 Menschen, die auf bezahlbaren Wohnraum warten. Wir stehen vor der Situation, dass bald jeder zweite Hausarzt in Ruhestand geht. Wir haben ungelöste Fragen über die Zukunft des Klinikums. Wir haben ein Problem bei der Digitalisierung der Schulen, auch eine Sache, die jahrelang liegen geblieben ist. Wir haben aktuell offenbar die Situation, dass wir den Rechtsanspruch für Kinder über drei Jahren nicht zu hundert Prozent erfüllen. Ein Skandal! Wovon reden Sie da?Richter: Ich werde das im nächsten Jugendhilfeausschuss vorbringen. Ich bin angesprochen worden von jemandem, der zum zweiten Mal eine Ablehnung für sein viereinhalbjähriges Kind bekommen hat. Mir liegt die Mail mit der Absage vor. Ich dachte erst, das kann nicht sein, da liegt ein Fehler vor, oder ein Problem mit dem Aufenthaltsstatus oder so etwas, aber nichts dergleichen. Fehlt es an Kita-Plätzen?Richter: Auch so eine Sache, die zu viel Zeit braucht. Im Norden werden ja jetzt neue Kapazitäten schaffen, aber woanders haben wir Provisorien seit zehn, fünfzehn Jahren. Unter Provisorien verstehe ich persönlich etwas anderes. Beim Thema Klimaschutz sind Sie und die SPD bislang nicht besonders verhaltensauffällig.Richter: Wie kommen Sie darauf? Wir haken jetzt bei der Feuerwehr nach, warum keine Photovoltaik auf dem Neubau ist. Ohnehin gibt es auf den städtischen Dächern Nachholbedarf. Wenn wir von den Bürgern erwarten, dass sie sich Photovoltaik aufs Dach packen, müssen wir als Stadt vorangehen. Und wir müssen alle Bürger mitnehmen, nicht nur Hausbesitzer, sondern auch Mieter. Deshalb haben wir als SPD die Förderung von Balkonkraftwerken im Frühjahr beantragt. Auch beim öffentlichen Nahverkehr bin ich dafür, dass wir ihn attraktiver machen. Wenn ich sehe, dass wir eine dreistellige Zahl an Haltestellen haben, die nicht beleuchtet sind und wo es an Unterstellmöglichkeit fehlt, dann muss ich leider feststellen: Herr Schulz lässt unsere Bürger im Regen stehen. Sie sind schon eine ganze Weile im Rat, aber bislang nur als Sozialpolitiker aufgefallen. Täusche ich mich?Richter: Schwerpunktmäßig mag das sein. Ich bin über die Jugendpolitik in den Rat gekommen. Dort und in der Sozialpolitik sehe ich meine Stärken, warum sollte ich das leugnen? Aber wenn Sie andeuten wollen, dass ich bei den anderen Themen nicht auf dem Laufenden bin, möchte ich widersprechen. Als Ratsmitglied kriege ich das schon mit, und ich bin gut vernetzt, vielleicht mehr, als Sie denken. Andere Themen wie Stadtplanung, Bauen, Umwelt, Verkehr, werden oft als die gewichtigeren angesehen. Dort aber fehlt es Ihnen an Profil.Richter: Finden Sie? Zum einen bin ich mir nicht sicher, ob Ihre Einschätzung richtig ist. Ich möchte Sie sogar in Zweifel ziehen. Zum anderen weiß ich, dass in der Stadtverwaltung hochkompetente Leute unterwegs sind. Was meinen Sie damit?Richter: Als Bürgermeister muss ich nicht alles bis ins letzte Detail kennen. Da lege ich die Strategien fest, stelle die Weichen, und – was unser Bürgermeister offensichtlich zu wenig tut – kümmere mich um das Monitoring. Um die Kontrolle. Der Bürgermeister hat laut Gemeindeordnung die Aufgabe, die Verwaltung zu führen und zu kontrollieren. Aber er macht manches alleine und ist nicht offen für Argumente von anderen. Das ist schlechter Führungsstil. Hat Henning Schulz Frau Herrling auf dem Gewissen (Anm: die erkrankte Stadtbaurätin)?Richter: Das kann ich schwer beurteilen, und es steht mir nicht zu, das zu bewerten. Unabhängig von Frau Herrling: Es kann nicht sein, weder in der Verwaltung noch sonstwo, dass ein Chef seine Mitarbeiter öffentlich an den Pranger stellt. Fehler passieren jedem, immer, überall. Wir sind alle nur Menschen. Aber keiner macht sie absichtlich. So oder so klärt man das intern. Vermutlich passieren Fehler eher, wenn man einfach zu viel auf dem Tisch hat.Richter: Der Bürgermeister hat das Problem, dass er viele Stellen unbesetzt hat. Wenn bestimmtes Personal fehlt, weil die Leute in der freien Wirtschaft mehr Geld bekommen, wird es für eine Verwaltung schwierig. Aber das darf keine Entschuldigung dafür sein, Dinge aus dem Ruder laufen zu lassen, sich nicht dafür zu interessieren und sich nicht verantwortlich zu erklären. Ein Bürgermeister muss erkennen, wo seine Leute Hilfe brauchen und sie unterstützen. Hat er bei der dritten Gesamtschule weggesehen?Richter: Wenn es eingangs heißt, die Gesamtschule kostet 27 Millionen, und ein externer Experte sagt: Leute, das war schon immer ein Projekt von 50 Millionen Euro, dann liegt doch der Fehler an anderer Stelle. Dann hat der Bürgermeister nicht ordentlich geprüft oder die Sache falsch eingeschätzt. Letzter Punkt dazu: Wenn Herr Schulz sagt, ihn hätte keiner aus der Verwaltung rechtzeitig informiert, fragt man sich, was ist das für eine Amtsauffassung? Es geht um das größte Bauprojekt der Stadt, und der Bürgermeister fragt nicht von sich aus mal nach, wie es läuft? Sondern wartet in seinem Büro, dass ihm mal jemand was zuträgt? Jetzt ist Michael Wewer in den Ruhestand gegangen, und die Stadt steht ohne Verkehrsplaner da.Richter: Und ich frage Sie, wie kann das sein? Der Kollege ist nicht vorzeitig in den Ruhestand gegangen oder so. Man wusste seit Jahren, dass dieses Datum kommt, und dennoch ist keine Reaktion da. An so einer Schlüsselstelle! Ich weiß zwar, dass so etwas auch in der Privatwirtschaft vorkommt und Mitarbeiter ganz überraschend 65 Jahre alt werden, aber ein Zeichen vorausschauender Personalplanung ist das nicht. Eigentlich müsste so früh der Nachfolger gefunden sein, dass eine Einarbeitung möglich ist. Im Fall Wewer hat das die Verwaltungsleitung offenbar alles vergessen. Sie arbeiten sich schon ganz am Bürgermeister ab.Richter: Nun, wenn Sie mich danach fragen? Die öffentliche Hand hat es nicht einfach, geeignete Leute zu finden. Die Privatwirtschaft zahlt mehr.Richter: Ist mir bewusst. Dennoch sieht vorausschauende Personalplanung anders aus. Vor etlichen Jahren waren noch geeignete Bewerber am Markt zu finden. Doch das hat Schulz versäumt und eine schwarz-grüne Mehrheit hat über Jahre die Personalausgaben gekürzt. Fachkräftemangel kommt nicht überraschend, das kann mir niemand erzählen. Jugend- und Sozialpolitik ist Ihr Schwerpunkt. Doch unter den fünf Bürgermeisterkandidaten sind Sie der einzige, der kinderlos ist, der keine Familie hat. Wie passt das zusammen?Richter: Die Frage ist, wie Sie Familie definieren. Traditionell, also eins, zwei, drei, vier? Für mich ist Familie, wenn ich mit Menschen zusammenlebe, für die ich Verantwortung übernehme. Ich habe mich viele Jahre um meine Eltern gekümmert. Beide hatten einen Schlaganfall und waren pflegebedürftig. Das ist eine Entscheidung, die ich nie bereut habe. Auch das ist Familie. Und der Lauf der Zeit war nun mal so, dass ich ohne eigene Kinder geblieben bin. Oft äußern Sie sich zum sozialen Wohnungsbau. Setzt die geplante städtische Immobilientochter falsche Prioritäten?Richter: Wieso? In der Sitzungsvorlage, der die SPD nun zustimmen will, steht, die Gesellschaft soll sich vorrangig um die Entwicklung des Mansergh-Quartiers kümmern.Richter: Steht das da so eindeutig? Ich finde schon.Richter: Dann werde ich das nochmal lesen. In dem Antrag, den wir als SPD mit der BfGT, den Grünen und der Linken formuliert haben, steht, dass die Entwicklung des Mansergh-Quartiers eine der Aufgaben dieser Gesellschaft sein soll. Wir haben damals eine Auflistung gemacht, ohne zu priorisieren. So sehe ich das noch heute. Sie waren oder sind Vorsitzender des Runden Tisches zu den Tönnies-Werkvertragsarbeitern. Nun löst sich das Gremium auf, weil es seine Aufgaben als erfüllt ansieht. Ihnen geht damit eine Möglichkeit verloren, sich zu profilieren.Richter: Wir haben mit dem Runden Tisch viel bewirkt. Das freut mich. Er wird sich auch künftig regelmäßig treffen, wenn auch vielleicht nur einmal im Jahr. Es wird sich gesetzlich viel verändern, viel verbessern, das hoffen wir jedenfalls. Auch in der Stadtgesellschaft und in der Stadtverwaltung sind Prozesse angestoßen. Das ist mir wichtig. Wir haben hier in Gütersloh viele tausend Menschen, die an unserer Gesellschaft vorbei leben, und das ist kein guter Zustand. Wir müssen das ändern, und zwar dauerhaft. Es wird weiter Zuzug von Ost- und von Südosteuropäern geben, sei es für Amazon oder andere Firmen. Ich habe nicht vor, dieses Thema für abgehakt zu erklären. Im Gegenteil, wir haben uns gerade erst auf den Weg gemacht. Die Perspektive für Karstadt ist wenig rosig. Was würden Sie aus dem Gebäude machen?Richter: Die Chancen stehen in der Tat nicht gut. Bei einer Nachnutzung würde ich auf jeden Fall die Bürger mit ins Boot nehmen. Ein klarer Fall von Bürgerbeteiligung. Wir brauchen dort Ideen und Konzepte. Man kann über vieles nachdenken, ebenerdig Geschäfte, obendrüber Büros und Wohnen. Die wichtigste Frage lautet: Was ist für die Menschen attraktiv, damit sie in die Stadt kommen? Einen jahrelangen Leerstand müssen wir unbedingt verhindern. Als die SPD Sie nominiert hat, hieß es, Sie waren nicht der Kandidat erster Wahl. Sie seien es nur deshalb geworden, weil andere abgesagt hätten. Ein Problem für Sie?Richter: Das belastet mich nicht. Die SPD ist eine große Partei. Wir haben viele gute Genossen, die geeignet wären, Bürgermeister zu werden. Wieso sollte das ein Problem für mich sein? Da waren auch welche dabei, für die hätte ich auf meine eigene Kandidatur sofort verzichtet. Haben Sie das Gefühl, jetzt allen Rückhalt zu haben, den Sie brauchen?Richter: Ich habe den vollen Rückhalt meiner Partei. Die Unterstützung, auch von jenen, die anfangs vielleicht zurückhaltender waren. Wir treten geschlossen auf, es gibt im Moment überhaupt keinen Konflikt. Das macht mir Mut. Wie schätzen Sie Ihre Chancen ein? Landen Sie auf Platz zwei oder drei?Richter: Ich bin mir sicher, dass es eine Stichwahl geben wird. Herr Schulz wird es nicht im ersten Wahlgang schaffen, und danach ist das Rennen offen. Ich bin zuversichtlich. Wir haben diesmal gute Bewerber, aber ich glaube, dass das Angebot das ich mache, in der kompletten Bandbreite der Politikfelder, auf besonders viel Zustimmung stößt. Viele, die vor fünf Jahren von Herrn Schulz überzeugt waren, sind es heute nicht mehr, sie sagen: Den kann man nicht mehr wählen. Ich finde auch: Er hat seine Chance gehabt.

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