Warum der Kreis Gütersloh einer der wichtigsten Standorte der Fleischindustrie ist

Gütersloh. Covid-19-Ausbrüche in Fleischfabriken wie beim Schlachtkonzern Tönnies haben den Blick auf diesen Wirtschaftsbereich gelenkt. Die Arbeitsbedingungen der Werkvertragsarbeiter und auch das Wohl der Tiere treten in den Mittelpunkt einer gesellschaftlichen Diskussion. Dass der Kreis Gütersloh mit Tönnies da mittendrin ist, kommt nicht von ungefähr. Um einzuschätzen, wie wichtig tierische Produkte und ihre Verarbeitung für die Region sind, lohnt ein Blick in die Geschichte des Kreises. Warum ist Fleisch ausgerechnet hier zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor geworden? Armut und Sandboden Viehhaltung und Fleischprodukte haben im Kreis Gütersloh eine lange Tradition. &bdquo;Das war aber eher ein Armutszeugnis", berichtet der Versmolder Stadtarchivar Rolf Westheider. Er kennt sich entsprechend dem Ruf der Stadt als &bdquo;Fettfleck Westfalens" ziemlich gut in der lokalen Geschichte der Fleischverarbeitung aus. Und wie wichtig Viehhaltung für die örtlichen Landwirte war, weise auch auf die geologischen Gegebenheiten hin, betont der Historiker. &bdquo;Nördlich der Ems dominiert nährstoffarmer Sandboden, der lange Zeit – bis zur Erfindung von Kunstdünger im 19. Jahrhundert – einen ertragreichen Getreideanbau verhinderte." Und so hielten die Landwirte vorzugsweise Vieh, darunter meist eins oder mehrere Schweine zur Selbstversorgung. Geschlachtet wurde in der Deele, das Fleisch wurde mithilfe von Räuchern und Pökeln haltbar gemacht. Ein westfälischer Exportschlager Das langsame Räuchern mit dem Rauch des Kochfeuers war nur eine wichtige Zutat für ein Fleischprodukt mit hohem Bekanntheitsgrad. Westfälischer Schinken. Eine weitere Zutat war die besondere Ernährung der Tiere, die aufgrund der kargen Böden in die Wälder getrieben wurden. Die Eichelmast – und sicherlich auch die eine oder andere Buchecker, wie Westheider hinzufügt – und Roggen verliehen dem Fleisch den unverwechselbaren kernigen Geschmack. Und auch das Klima spielte eine Rolle, wie Gerd Abeln unterstreicht. Er ist Historiker, gelernter Fleischer und Chefredakteur der Fleischwirtschaft. Der Schinken habe schon früh Bekanntheitsgrad erreicht. &bdquo;Das war ein echter Exportschlager", meint Abeln. Er sieht in all den Voraussetzungen der Region, speziell auch im Kreis Gütersloh, perfekte Voraussetzungen für das spätere Entstehen größerer Industrieunternehmen. &bdquo;Da musste das so kommen." Spezialfall Versmold Wer bei Westfalen an den Schinken denkt, denkt bei Versmold an die Wurst. Nicht wenige Akteure der Fleischwarenindustrie heute hatten hier ihren Ursprung oder sitzen immer noch da. Darunter ist Wiltmann (1887), aus Sicht von Westheider ein klassisches Beispiel dafür, wie die Fleischwirtschaft in Versmold direkt &bdquo;um die Höfe gewachsen ist". Eine zum 125. Jubiläum von Wiltmann selbst herausgegebene Firmengeschichte detailliert nicht nur den Beginn der Fleischverarbeitung zu Zeiten der Industrialisierung, sondern auch die lange landwirtschaftliche Vorgeschichte des Familienunternehmens. Auch Heristo (Stockmeyer), heute als eins der größten Nahrungsmittelunternehmen Deutschlands in Bad Rothenfelde ansässig, hat in Versmold 1913 mit Wurst und Fleischveredelung seinen Anfang genommen. Nölke (seit 1924) gehört seit 2015 zur Zur-Mühlen-Gruppe, die wiederum seit einigen Jahren Clemens Tönnies gehört. Die bekannteste aus dem Unternehmen hervorgegangene Marke ist &bdquo;Gutfried", deren Name sich vom alten Standort auf Gut Friedrichsruh ableitet. &bdquo;Nölke war der erste, der eine Geflügelwurst auf den deutschen Markt brachte", berichtet Westheider. Reinert (1931 gegründet) hat als kleine Fleischerei in Versmold angefangen und in den 50er Jahren einen großen Wachstumssprung hingelegt. Erfolgreich waren vor allem Dauerwurst und Schinken. Danach ist das Unternehmen weiter gewachsen und hat diverse andere Unternehmen aufgekauft. Anfang 2020 ist Reinert mit der Firma Kemper Wurstwaren zu &bdquo;The Family Butchers" fusioniert. Gewerbefreiheit und Gründungswelle Während in Versmold die Fleischindustrie im direkten Umkreis der Höfe wuchs, ging sie im Rest des Kreises zumeist aus Handel und Handwerk hervor. Deren Ursprünge liegen nicht selten im 19. Jahrhundert. &bdquo;Vor allem in den Jahren 1870 bis 1930 kamen viele Sachen zusammen", erklärt Abeln. Die Zahl der Gründungen sei nach 1871 und der endgültigen Abschaffung des Zunftzwangs im Kaiserreich insgesamt deutlich gestiegen. Für die industrielle Verarbeitung war eine Sache aber ganz wichtig: Die Kühltechnik. &bdquo;Nur mit Kühlung kann ganzjährig geschlachtet werden", erklärt Westheider. Und die war bis zur Verbreitung der Eismaschine, 1895 erfunden von Carl Linde, nur umständlich zu gewährleisten. Und, speziell auch für Gütersloh wichtig: &bdquo;Das hatte sicherlich auch mit der Eisenbahnlinie zu tun", meint Abeln. 1847 hielt erstmals die Köln-Mindener Eisenbahn in Gütersloh. Vor allem Dauerwurst und Schinken wurden nun per Zug exportiert. Versorgungsstandort Gütersloh im ersten Weltkrieg So entstand etwa die Wurstfirma Marten in Gütersloh 1855. Und der Fleischwarenhersteller Vogt & Wolf ging aus der 1800 gegründeten Fleischerei Wolf hervor und investierte laut Stadtarchiv Gütersloh 1880 in eine Dampfmaschine, um die eigenen Produktionskapazitäten zu steigern. Beide sind später in der Blankemeyer-Gruppe aufgegangen und gehören seit 2017 übrigens ebenfalls zur Zur-Mühlen-Gruppe. Direkt an der Eisenbahn errichteten 1894 die Gebrüder Wulfhorst ihre Fleischwarenfabrik. Ein guter Standort, schließlich kam das Schlachtvieh direkt mit dem Zug am Bahnhof an. Der Bahnhof wurde dann auch zu einem wichtigen Versorgungsstandort im Ersten Weltkrieg, den viele Soldaten laut Stadtarchiv aufgrund von Spenden durch die Fleischwarenhersteller in positiver Erinnerung behielten. Technik und Wachstum Nach dem Krieg wuchs die Branche weiter, gerade in den späten 20er Jahren entstanden weitere Fleischfabriken, andere bauten die Produktion aus. Verbesserungen bei Kühltechnik, aber auch andere Innovationen spielten eine wichtige Rolle. Auch die Spezialisierung nimmt immer weiter zu. Und so kommt es, dass im Kreis Gütersloh in nicht wenigen Firmenhistorien Lebensmittel, vor allem tierische, eine wichtige Rolle spielen. Miele begann nicht umsonst seine Geschichte um die Jahrhundertwende mit Molkerei-Zentrifugen. Insgesamt entwickelte sich der Kreis Gütersloh als Wirtschaftsstandort im Laufe der Zeit mit dem Erfolg der Lebensmittel- und natürlich der Fleischbranche, wie Albrecht Pförtner von Pro Wirtschaft Gütersloh erklärt: &bdquo;Dass Gütersloh ein bedeutender Maschinenbaustandort ist, das hängt damit zusammen." Aber auch Verpackungs- und Logistikunternehmen nutzten die Synergien mit den Bedarfen der Fleischindustrie. Gerade in Außengebieten wie Versmold, das nicht so einen guten Zugang zum Bahnnetz wie Gütersloh genießt, entstehen etwa mehrere Speditionen, berichtet Westheider: 1924 Lohmann, 1928 Wrobbel und 1935 Nagel. Wirtschaftswunder und Billigfleisch So richtig Fahrt nimmt die Branche dann nach dem Zweiten Weltkrieg auf. In der Wirtschaftswunderzeit der 1950er steigt der Fleischkonsum. Fleisch wird gleichzeitig zum Symbol für Wohlstand und Status. Die Industrialisierung zieht nun auch in die Ställe ein, mit der Massentierhaltung kann Fleisch in zuvor ungeahnten Massen produziert werden. Um diese Massen abzufertigen spezialisieren und zentralisieren sich also mit der Zeit auch die Unternehmen der Fleischindustrie? Aus Sicht von Abeln sei das sicherlich ein wichtiger Faktor für das Entstehen der heutigen Schlachtgiganten gewesen. Dass Tönnies (1971 gegründet) in Rheda-Wiedenbrück gerade im Laufe der 80er so stark gewachsen ist, habe aber noch einen anderen wichtigen Grund: &bdquo;Der Erfolg von Tönnies ist untrennbar mit dem Aufstieg der Discounter verbunden", sagt Abeln. Immer günstigere Preise für Fleischprodukte führten in den 80er und 90er Jahren dazu, dass der Verbrauch in Deutschland noch weiter anstieg – auf mehr als 90 Kilogramm pro Kopf und Jahr. Seitdem hat sich der Verbrauch – der auch Schlachtabfälle und Tierfutter beinhaltet – bei knapp 90 Kilogramm und Jahr eingependelt und der tatsächliche Verzehr bei etwa 60 Kilogramm. Kleinere Einschnitte gab es nur durch BSE Anfang der 90er und der Ausbreitung der Vogelgrippe rund um die Jahrtausendwende. Nach Corona &bdquo;Corona ist ein Katalysator", meint Gerd Abeln. Die Ausbrüche von Covid-19 in Fleischfabriken wie der bei Tönnies würden den Blick auf das System lenken. Insgesamt sieht der Branchenexperte aber schon seit geraumer Zeit ein Umdenken in Richtung Tierwohl und Regionalität. &bdquo;Es wird sich jetzt zeigen, was die Verbraucher wollen." Für Albrecht Pförtner ist klar, dass Lebensmittel und vor allem Fleisch eine enorm wichtige Rolle in der Gütersloher Wirtschaft spielen. &bdquo;Wenn diese Branche wackelt, dann hat das für den gesamten Kreis Konsequenzen." Aber er sehe darin auch eine Chance, sich für die Zukunft aufzustellen. Lebensmittel würden schließlich immer gebraucht, unterstreicht Pförtner: &bdquo;Und da haben wir alle Kompetenzen hier vor Ort. Das ist historisch alles aus der Land- und Fleischwirtschaft gewachsen."

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