Albtraum Kinderkur: "Für viele war es kurz vor der Hölle"

Gütersloh. "Für mich im Nachhinein ist das Erlebte, fast 70 Jahre später, in einigen Passagen zum Schmunzeln", sagt Helmut Gronemeyer aus Gütersloh. "Für viele, viele andere Kinder in der Zeit war es sicherlich kurz vor der Hölle." Als Reaktion auf die Berichterstattung "Albtraum Kinderverschickung" haben sich zahlreiche Leser an die NW-Redaktion gewandt und ihre Erlebnisse geschildert. Auch Tränen sind geflossen, denn bei dem ein oder anderen wurden Emotionen geweckt, die bereits vergessen schienen. "Da ich zwei Jahre jünger war als fast alle anderen, lief ich so nebenher. Man nahm mich nicht so ernst, ich genoss viele Freiheiten", erinnert sich Gronemeyer. Als Zehnjähriger wurde er nach Nebel auf Amrum in das Sanatorium Dr. Ide geschickt. Unbegleitet für sechs Wochen - wie unzählige andere Kinder in der Zeit von 1950 bis 1990. "Bettnässer wurden öffentlich vorgeführt" "Die anderen mussten sich immer in der Reihe zu zweit anfassen und hintereinander gehen, ich trollte so hinterher. Der Vorteil: vorher hatte ich von den anderen die Briefe eingesammelt, sie dann in einem günstigen Augenblick in den Briefkasten eingeworfen, was strengstens verboten war, die mussten offen der Schwester abgegeben werden, zur Kontrolle. So kamen aber doch einige Briefe mit all den schlimmen Wahrheiten in Gütersloh an." Für die Kleinen gab es kein Entrinnen: "Ob sie das Essen mochten oder nicht, ob sie es wieder erbrachen, dann trotzdem das Erbrochene aufessen mussten und so lange am Tisch unter Aufsicht sitzen bleiben mussten, bis der Teller leer war." Wenn die Kinder das Bett genässt hatte, mussten diejenigen oben im ersten Stock die Betten über den Balkon halten, " aber nur so, dass man den Kopf des Bettnässers auch erkennen konnte. Wir, die einen Spaziergang nach dem Frühstück machten, mussten unten im Hof zwei mal die Runde drehen. Wir wurden extra darauf aufmerksam gemacht und die Kinder oben namentlich genannt, dass auch der Letzte Bescheid wusste, wem das passiert war." "Zum essen gezwungen wurden - auch zum essen von Erbrochenem" Simone G., heute 56 Jahre alt, wurde im Alter von sechs Jahren in das Kinderkurheim Norderney verschickt. "Wer nicht essen konnte oder wollte, war am schlimmsten dran", auch sie erlebt in einem Klima der Angst und Sprachlosigkeit, wie Kinder zum essen gezwungen wurden - auch zum essen von Erbrochenem. Die Strafen waren drakonisch, bis hin zum Wegsperren von ungehorsamen Kindern. "Viele haben pausenlos geweint", es half wohl nichts. "Man konnte nicht telefonieren, man konnte nur unter Aufsicht der Schwestern und Nonnen Postkarten gestalten, so dass man gar keine Hilferufe an Zuhause absenden konnte." Aber selbst wenn. Geglaubt hat den Kindern damals niemand so recht. Vielleicht wollte es auch niemand hören und wahr haben. Simone G. wurde von ihrer Mutter trotz massivem Protest zwei Jahre später erneut in das selbe Kurheim geschickt und erlebt das Martyrium ein weiteres mal. Geschwister wurden an Ort und Stelle getrennt "In den vergangenen Jahren hat mich das Thema immer wieder beschäftigt", berichtet Ines Maoro. "Ende der 1960er Jahre wurde ich im Alter von acht Jahren im Herbst für sechs Wochen nach Niendorf an der Ostsee in Begleitung meines zwei Jahre älteren Bruders verschickt. Das Kinderheim wurde damals von katholischen Nonnen geführt. Die Zeit dort hat mich regelrecht traumatisiert." Die Geschwister wurden voneinander getrennt. "In den sechs Wochen habe ich meinen Bruder nur einmal bewusst beim Schuhe anziehen im Schuhkeller gesehen." Im Jahre 1999 macht Ines Moaro in der Nähe von Niendorf eine Mutter- und Kind Kur und sucht das Kinderheim von damals auf. "Nach 30 Jahren habe ich alles sofort wiedererkannt und bin in Tränen ausgebrochen, weil die negativen Erinnerungen sofort wieder da waren." Eine ganze Nacht zur Strafe im Waschraum verbracht "Auch ich verbrachte als Fünfjährige 1955 sechs Wochen in so einer Einrichtung . Es nannte sich Kindersanatorium Luisenheim in Bad Dürrheim", berichtet Ursula Salin. Vom morgendlichen Haferschleim musste sie sich übergeben. "Daraufhin wurde mir das Erbrochene samt restlichem Haferschleim wieder eingeflößt. Ein anderes Mal habe ich eine ganze Nacht in der Ecke stehend im Waschraum verbringen müssen. Wurde ich müde und sass in der Hocke, wurde ich geweckt und musste mich wieder hinstellen. Mein "Verbrechen" war, dass ich meinen Fuß aus dem Bett gestreckt hatte und mit meiner Bettnachbarin gefüßelt hatte." Unter den Erlebnissen, so Salin, leide sie bis heute. "Auch gute Heime haben es verdient, erwähnt zu werden" Jemand, der dagegen hält, ist Erika Rawaschda aus Gütersloh: "Mein Kuraufenthalt 1958 auf Schloss Herdringen im Sauerland war eine Bereicherung, die ich in meiner Kindheit erleben durfte und ich bin mit ganz vielen Glücksgefühlen nach Hause gefahren." Es habe keinerlei Zwang gegeben, die Mädchen im Alter zwischen 10 und 15 hätten allesamt viel Spaß zusammen gehabt. "Auch gute Heime haben es verdient, erwähnt zu werden", so Rawaschda. Dem stimmt auch Willi Wüllner aus Gütersloh bei. "Ich bin 1943 mit der Kinderlandverschickung im niederländischen Arnheim gelandet." Ausschließlich positive Erinnerungen habe er an diese Wochen, "keine Züchtigung, keine Pein, kein Heimweh." Er sei nur ein einziges Mal traurig gewesen: "Als wir nach Hause fahren mussten."

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