Warum es gut war, dass Verls Torwart beim Elfmeter-Krimi einen Zettel hatte

Herr Memmert, Robin Brüseke, Torhüter des SC Verl, hat im Elfmeterschießen gegen Holstein Kiel im Pokal einen Zettel in der Tasche gehabt, auf dem die bevorzugten Schussrichtungen aller Schützen des Gegners vermerkt waren. Inwieweit beeinflusst das ein Elfmeterschießen? Daniel Memmert: Ich habe dazu ein Buch geschrieben und in mehr als 32 Kapiteln verschiedene psychologische Maßnahmen beschrieben, inwieweit sich ein Elfmeterschießen beeinflussen lässt. Und natürlich hat auch der von Ihnen angesprochene Zettel des Torhüters einen Einfluss auf den jeweiligen Schützen. Vorbereitung und Statistiken helfen. Es ist gut zu wissen, was mein Gegenüber macht, gerade in einer Drucksituation. Dahinter verbirgt sich ein psychisches Phänomen: Menschen verfallen in Drucksituationen automatisch in gewohnte Muster, die automatisiert, trainiert und angelernt sind. So auch der Elfmeterschütze. Er versucht möglichst erfolgreich aus der Situation herauszukommen. Schießt ein Schütze also meistens nach rechts und hat er damit auch noch Erfolg, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass er es wieder tut. Klingt so, als wäre ein Torhüter grundsätzlich im Vorteil. Memmert: Nicht unbedingt. Es gibt gerade in den höheren Ligen Datenbänke über jeden einzelnen Spieler. Das bedeutet im Umkehrschluss aber auch, dass Schützen damit rechnen, dass sich der Torhüter darauf vorbereitet. Umso wichtiger wird es für denjenigen der schießt, sich möglichst viele Varianten eines Elfmeters anzueignen. Links, rechts, flach, hoch oder sogar ein Lupfer – ein Schütze muss möglichst unberechenbar sein. Das macht es dann auch für den Torwart schwierig. Was kann ein Torhüter noch machen, um den Schützen zu verunsichern? Memmert: Der Torhüter kann einige Tricks machen, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen einen Elfmeter zu halten. Indem er sich aufstellt wie ein Y oder indem er winkt, versucht er Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das führt dazu, dass die Schützen weiter von Torhütern weg zielen und somit ab und an das Tor verfehlen. So wie Brüseke gegen Kiel. Memmert: Genau. Gute Torwarttrainer wissen das und geben das ihren Schützlingen mit. Außerdem kann sich ein Torwart ganz leicht, wirklich minimal, nicht mehr als zehn Zentimeter, nach links oder rechts von der Tormitte aus stellen, so dass der Schütze immer noch glaubt, der Torhüter steht im Zentrum. Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass der Schütze in das Eck schießt, in dem physikalisch auch mehr Platz ist. Der Torhüter muss dann nur noch in diese Ecke springen. Grundsätzlich sollte der Torwart noch zusehen, dass zwischen Elfmeterpfiff und Ausführung des Schusses eine lange Zeit vergeht. Auch damit erhöht er die Wahrscheinlichkeit, dass der Schütze verschießt. Welche Möglichkeiten hat der Schütze? Memmert: Es ist ein Hin und Her zwischen Torhüter und Schütze. Der Spieler kann sich Rituale aufbauen, dass immer alles gleich abläuft. Beispiel Cristiano Ronaldo mit seinem breiten Stand. Ansonsten sollte er wissen, dass flache Schüsse eine höhere Wahrscheinlichkeit haben im Tor zu landen als hohe Versuche. An hohe Schüsse kommt der Torhüter zwar deutlich seltener ran, mit einer Wahrscheinlichkeit von 27 Prozent landet der Ball aber an der Latte, über oder neben dem Tor. Und sonst? Welche psychischen Tricks kann er anwenden? Memmert: Ansonsten sollte er auf sein Standbein achten, denn dieses lässt oftmals die Richtung des Schusses erahnen. Um Stärke zu demonstrieren, sollte er dem Torhüter außerdem niemals den Rücken zukehren. Holt er sich also den Ball ab, wäre es ratsam rückwärts zum Elfmeterpunkt zu schreiten und den Torwart dabei anzuschauen. Ein schneller Anlauf beim Schuss signalisiert Fluchtgefahr, besser ist es, wenn der Spieler durchatmet, bis drei zählt und dann erst anläuft. Er bestimmt, wann es losgeht. Nicht der Schiedsrichter. Nicht der Torhüter. Wie verhält es sich mit einem Torjubel? Auch das demonstriert Stärke. Memmert: Auch das sollte er tun. Da gibt es sehr schöne Studien zu. Wenn ein Schütze ausgiebig jubelt, erhöht er damit die Wahrscheinlichkeit, dass auch der nachfolgende Spieler seines Teams trifft und der nächste antretende Gegner verschießt. Ist es bei all der psychischen Belastung überhaupt möglich einen Elfmeter zu trainieren? Memmert: Es gibt viele verschiedene Varianten. Sowohl die Technik an sich aber auch die psychologische Belastung kann trainiert oder zumindest simuliert werden. Warum sollte ein Spieler nicht auch mal im Training von der Mittellinie aus zum Elfmeterpunkt gehen, wie später im Spiel? Genauso kann im Training mit Strafen oder Kollektivstrafen gearbeitet werden. Wenn ein Spieler im Training einen Elfer verschießt, muss er dann später der Mannschaft das Essen servieren oder ähnliches. Auch das simuliert die Drucksituation. Aber: Die psychische Belastung in einem Spiel ist natürlich ungleich höher. Welche Rolle spielen große Namen? Schließlich treten bei den meisten Vereinen die Stars auch zum Elfmeter an. Memmert: Ein Kollege von mir aus England hat sich einmal Spieler angeschaut bevor und nachdem sie berühmt geworden sind. Nachdem sie Einzelpreise gewonnen haben, ist die Wahrscheinlichkeit deutlich höher geworden, dass sie Elfmeter verschießen. Jeder erwartet auf einmal, dass der Topstar trifft. Es ist natürlich nur ein minimaler Unterschied in der Statistik, aber er ist vorhanden. Das heißt, es wäre besser, wenn ein Trainer Spieler schießen lässt, die Talente sind, aber noch nichts erreicht haben und demnach auch nichts zu verlieren haben. Das bedeutet die Wahrscheinlichkeit, dass der Amateurverein SC Verl gegen den Zweitligisten Holstein Kiel im Elfmeterschießen gewinnt war höher? Memmert: Nicht zwingend. Man muss auch immer davon ausgehen, dass Amateurspieler technisch nicht so gut sind wie Profis oder sogar Spieler wie Lionel Messi und Cristiano Ronaldo. Psychologie schlägt nicht alles. Das muss man ganz klar festhalten.

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