Vermeidbar oder nicht? Tödliche Unfälle werden nachgestellt

Herr Hellkamp, wann genau kommen Sie und Ihr Team nach einem heftigen Verkehrsunfall ins Spiel? UWE HELLKAMP: Wir werden von der Polizei bzw. von der Staatsanwaltschaft meist unmittelbar nach einem Verkehrsunfall mit schwer verletzten oder getöteten Personen kontaktiert. Sie beauftragen uns dann mit der Erstattung eines unfallanalytischen Gutachtens. Das soll unter anderem feststellen, ob der Unfall für die Beteiligten vermeidbar oder unvermeidbar war. Bei Unfällen, die zum Beispiel in der Dämmerung oder in der Dunkelheit stattgefunden haben, kann unfallursächlich sein, dass ein Beteiligter nur schwer zu erkennen war. Zum Beispiel können Fußgänger mit dunkler Kleidung in der Dämmerung für einen Autofahrer gar nicht oder erst zu spät wahrnehmbar gewesen sein. In diesem Fall ist ein zusätzliches lichttechnisches Gutachten notwendig. Und das kann dann diese Ungewissheit klären? Hellkamp: Ja. Wenn wir es mit einem möglicherweise nicht oder nur schlecht wahrnehmbaren Verkehrsteilnehmer zu tun haben, kann eine lichttechnische Vermessung an der Unfallstelle die Frage klären, ob und wann dieser überhaupt erkennbar war. Unsere Messung liefert als Ergebnis eine sogenannte Erkennbarkeits-Entfernung. Nennen Sie mal ein Beispiel. Hellkamp: Gegen einen Fahrer, der nachts mit seinem Wagen einen Fußgänger erfasst hat, wird ermittelt. Wir stellen nun fest, ab welcher Entfernung der Fußgänger für den Autofahrer bei den damals vorherrschenden Lichtverhältnissen erkennbar gewesen wäre. Gleichzeitig muss auch die Geschwindigkeit des Fahrers berücksichtigt werden. Hat er die zulässige Höchstgeschwindigkeit eingehalten? Hat er rechtzeitig auf den Fußgänger reagiert? Wenn nicht: Wäre der Unfall vermeidbar gewesen, wenn der Fahrer nicht zu schnell gefahren wäre? Wie läuft die Vorbereitung für so ein Gutachten ab? Hellkamp: Zunächst werden Spuren an der Unfallstelle gesichert, Fotos gemacht und der Unfallort vermessen. Wir werden normalerweise unmittelbar nach einem Unfall informiert. Das heißt, wir fahren dann sofort zum Unfallort und führen dort zusammen mit der Polizei die Spurensicherung durch. Gesichert werden müssen unter anderem Reifenspuren, Schuhabriebspuren, Fahrzeugsplitter, Kontaktspuren auf der Fahrbahn aber auch die Endstellung des Fahrzeugs und die Endlage des Fußgängers. Wie geht’s dann weiter? Hellkamp: Bei einem Dunkelheitsunfall spielt die Beleuchtungssituation an der Unfallstelle eine entscheidende Rolle. Es muss also dokumentiert werden, ob die Straßenbeleuchtung in Betrieb war und ob andere Lampen im Umfeld Einfluss gehabt haben könnten. Bei vergangenen Gutachten war zum Beispiel ausschlaggebend, dass das Flutlicht eines nahegelegenen Sportplatzes brannte. Darüber hinaus ist auch die Witterung von Bedeutung. Hat es zum Unfallzeitpunkt geregnet? War die Fahrbahn trocken, nass oder feucht? Wenn Schnee gelegen hat, muss auch das auf unseren Bildern genauestens dokumentiert werden. Brauchen Sie für das Gutachten auch die Kleidung der Verletzten oder Toten? Hellkamp: Bei Fußgängerunfällen muss die Original-Bekleidung des Fußgängers sichergestellt und zunächst auf Unfallspuren untersucht werden. Sie wird dann später auch für die lichttechnische Vermessung verwendet. Löst das bei Ihnen nicht ein komisches Gefühl aus, wenn Sie mit der Kleidung eines Toten arbeiten? Hellkamp: Ja, sicherlich! Vor allem dann, wenn man als Sachverständiger schon kurz nach dem Unfall vor Ort war und die getötete Person noch an der Unfallstelle gesehen hat. Verletzte Personen sind in der Regel mit dem Krankenwagen weggebracht worden, wenn wir an die Unfallstelle kommen. Die getöteten Personen sind aber meist noch vor Ort. Wir müssen dann deren Verletzungen begutachten. Sie können unter anderem Hinweise auf die Gehrichtung des Fußgängers liefern. Manchmal nehmen wir tatsächlich später auch an der Obduktion teil, um weitere Erkenntnisse aus den Verletzungen der Personen ziehen zu können. Wie kommt die Kleidung der Verletzten oder Verstorbenen dann später bei der Vermessung zum Einsatz? Hellkamp:Wir benutzen eine höhenverstellbare Fußgängerattrappe, die die Bekleidung des Fußgängers trägt. Größe und Gewicht des Fußgängers erfahren wir von der Polizei. Bei der lichttechnischen Vermessung werden von uns dann insgesamt fünf Körperbereiche ausgewertet: Kopf, Brust, Becken, Beine und Füße. Die Messung selbst erfolgt in der Regel mit dem unfallbeteiligten Fahrzeug, das durch die Polizei vorab sichergestellt wurde. Wenn das Fahrzeug zu stark beschädigt ist, muss ein bauartgleiches Fahrzeug gemietet werden. Wie messen sie dann vor Ort? Hellkamp: In der Regel erfolgt eine Annäherung mit dem Fahrzeug an den Kollisionsort in Fünf-Meter-Schritten. Zeitgleich nähert sich auch die Fußgängerattrappe dem Unfallort. In jeder Annäherungskonstellation werden Messbilder gemacht, die dann nachträglich ausgewertet werden. Wir benutzen spezielle Software, mit denen Messbilder einzeln analysiert werden können. So ergibt sich für jede Konstellation ein Ergebnis: &bdquo;Fußgänger erkennbar" oder &bdquo;Fußgänger nicht erkennbar". Das Ergebnis des lichttechnischen Gutachtens ist dann die eben angesprochene Erkennbarkeitsentfernung. Wo stecken Herausforderungen bei der Durchführung? Hellkamp: Die Randbedingungen zum Messzeitpunkt müssen mit denen zum Unfallzeitpunkt möglichst genau übereinstimmen. Eine große Herausforderung ist deshalb, einen geeigneten Termin zu finden. Entscheidend sind die Lichtverhältnisse zum Unfallzeitpunkt. Wenn der Unfall im Dunkeln passiert ist, muss die Messung auch bei vollständiger Dunkelheit durchgeführt werden. Dann existieren aber auch noch drei Dämmerungsphasen. Im Sommer war es zum Beispiel in Gütersloh in der Zeit vom 21. Mai bis 22. Juli gar nicht mehr vollständig dunkel, so dass unsere Termine verschoben werden mussten. Die angesprochenen Dämmerungsphasen sind teilweise nur etwa 35 Minuten lang. Der Kollege, der die Fußgängerattrappe während der Messungen mehrfach umstellen muss, muss sich dann ganz schön beeilen. Und dann muss auch noch das Wetter mitspielen, oder? Hellkamp: So ist es. Eine trockene Straße findet man recht häufig. Wenn die Straße nass oder feucht sein muss, hilft dankenswerterweise meist die örtliche Feuerwehr und bewässert die Straße an der Unfallstelle kurz vor der Messung. Schwierig wird es, wenn zum Unfallzeitpunkt Schnee gelegen hat, dann muss man unter Umständen bis auf den Schneefall im nächsten Winter warten. Der ins Auge gefasste Messtermin muss dann etwa drei Tage vorher mit der Polizei abgestimmt werden, weil die ja die Straße sperren muss.

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