Löhne unten, Motivation oben: Wie Amazon auch in Gütersloh funktionieren soll

Kreis Gütersloh/Werne. Für Philipp Cramer, Wirtschaftsförderer in Werne, ist Amazon ein Segen. &bdquo;Wir sind froh, dass sie da sind." Seit sich der Online-Riese 2010 in der Kleinstadt bei Dortmund niederließ, sei der Sozialhaushalt merklich entlastet. Amazon habe Jobs und sogar, tatsächlich, etwas Wohlstand in die bergbaugebeutelte Region gebracht. Werne, ein Muster für Gütersloh? &bdquo;Bislang sind wir überall mit offenen Armen empfangen worden", sagt Antje Kurz-Möller, Sprecherin des Weltkonzerns. Warum sollte das in Oelde und im Kreis Gütersloh anders sein? 2020 wird Amazon sein Logistikzentrum im Gewerbegebiet Aurea an der A 2 eröffnen, vermutlich begleitet vom Hurra der Bürgermeister, Landräte und anderer Funktionäre. Rund 1.000 Jobs wird Amazon anfangs bieten, später, zumal im Weihnachtsgeschäft, etliche hundert mehr. Ordentlichen Teil der Hartz-IV-Bezieher absaugen Im Kreis Gütersloh hatte Fred Kupczyk, Leiter des Jobcenters, schon früh frohlockt: Amazon, so berichtete er der Kreispolitik, werde einen ordentlichen Teil der Hartz-IV-Bezieher absaugen, Ungelernte einstellen und solche, die der deutschen Sprache kaum mächtig seien. Das hübscht die Arbeitsmarktstatistik auf. Auf 113.793 Quadratmetern lässt sich der Gigant nieder. Von der Autobahn sieht man den Koloss nicht, er steht in zweiter Reihe. Der Bau scheint flott voranzugehen, doch wann ihn die Arbeiter beziehen, dazu äußern sich weder Bauherr noch Mieter. Ohnehin, sagt Antje Kurz-Möller, behält sich Amazon diesen Termin gerne vor. Das Gebäude mag längst fertig sein, Amazon es abgenommen und ein halbes Jahr lang seine Förder- und Robotertechnik eingebaut haben, es hieße noch immer nichts. Weihnachten beginnt schon im September &bdquo;Wir gehen erst an den Start, wenn die Kapazität wirklich gebraucht wird", sagt Kurz-Möller. Das sei marktabhängig. Boomt Amazon weiter so – Wachstumsrate 20 Prozent – geht das Verteilzentrum eher prompt in Betrieb, ansonsten später. &bdquo;Wir reagieren bei solchen Situationen extrem flexibel", sagt Kurz-Möller. Das Personal werde man schon rekrutiert bekommen. Zur Not peu à peu. In Werne zählen 1.500 Leute zur Stammbelegschaft; Weihnachten, das beim Online-Handel schon im September beginnt, summiert es sich inklusive Aushilfen auf gut 2.000. Um solchen Arbeitskräftebedarf zu stillen, mietet sich Amazon in der Nähe der Jobcenter mitunter eine Immobilie an – danach entsendet es ein Team von bis zu 15 Kräften, um dort die Einstellungsgespräche zu führen. &bdquo;Wir haben Erfolg mit dieser Methode", sagt Kurz-Möller. Vertreter des Gütersloher Jobcenters waren schon in Werne, um sich zu informieren. Löhne liegen unter Tarif, Urlaubsgeld gibt es nicht Die Entlohnung? &bdquo;Unsere Mitarbeiter verdienen alle ein wettbewerbsfähiges Gehalt", sagt Kurz-Möller. Ja, die Gewerkschaft habe recht, Amazon zahle nicht nach Tarif. Das werde aber durch eine Reihe anderer Faktoren wettgemacht: Zuschläge für Überstunden, Weihnachtsgeld, Boni, Mitarbeiteraktien, Lebens- und Erwerbsunfähigkeitsversicherungen, Pensionsfonds, Personalrabatte, bezuschusstes Kantinenessen. &bdquo;Amazon rechnet sich das schön", entgegnet Karsten Rupprecht, Gewerkschaftssekretär bei Verdi. Der Missstand fange schon bei der verkehrten Einstufung an. Während Verdi den Tarif für Einzelhandel fordert – &bdquo;Amazon macht seine Gewinne über den Kauf und Verkauf von Ware für Endverbraucher, was soll das anderes sein als Einzelhandel?" –, vertritt der Konzern die Ansicht, man sei Logistiker. &bdquo;Wir sind ein Transportunternehmen", sagt Kurz-Möller. Freilich, das räume sie ein, unterschreite Amazon den Logistik-Tarif. Man liege dennoch am oberen Ende dessen, was für vergleichbare Tätigkeiten üblich sei. Für Einsteiger liegt das Grundgehalt bei 11,27 Euro brutto, nach zwei Jahren bei 13,63 Euro. Aktien seien ein Mogelpaket Zu wenig, findet die Gewerkschaft, und hatte in der Woche vor Ostern zum Streik aufgerufen. An vier Standorten, darunter Werne, legten die Beschäftigten ihre Arbeit nieder. Die Streikbeteiligung war freilich mau, kein einziges Paket blieb liegen. Der Grund: Nur wenige Beschäftigte sind in der Gewerkschaft und die Betriebsräte schwach. Rupprecht sagt, die Mitarbeiter bräuchten vernünftige, planbare Grundlöhne. Das Weihnachtsgeld betrage mickrige 400 Euro, Urlaubsgeld gebe es gar nicht. Die Aktien seien ein Mogelpaket; erst nach zwei Jahren dürfe der Mitarbeiter sie verkaufen, zugleich aber laufe der befristete Vertrag aus und werde oft nicht verlängert. &bdquo;Die Belegschaft wird ausgetauscht, und die Aktien fallen an Amazon zurück." Kritisch sei auch der Einsatz der Handscanner zu sehen, wichtigstes Arbeitsutensil der Mitarbeiter. Der Scanner zeigt an, wo die Ware lagert, aber er registriere auch, wenn der Mitarbeiter mal Pause mache, ein Schwätzchen halte. &bdquo;Das ist fortlaufende Überwachung", klagt Rupprecht. Mitarbeiter stammen aus 70 Ländern &bdquo;Der Scanner sagt dem Mitarbeiter alles, was er zu tun hat. So wird der Mensch Teil eines Algorithmus. Seine Eigenständigkeit wird ausgeschaltet, als soziales Wesen ist er nicht gefragt." Eine schlimme Entwicklung sei das. Kurz-Möller hingegen verweist auf die hohe Treuequote. Entgegen Verdis Behauptung sei der weitaus größte Teil der Belegschaft unbefristet eingestellt, in Rheinberg etwa hätten 1.000 Beschäftigte unlängst ihre fünfjährige Betriebszugehörigkeit gefeiert. Auch der Arbeitsdruck sei keinesfalls so hoch wie unterstellt, die Zeitvorgaben seien großzügig gewählt. Wer in Werne das Lager betritt, kommt an markigen Sprüchen vorbei – &bdquo;Think big", &bdquo;Deliver results", &bdquo;Insist on the highest standards" – und stößt auf eine Weltkarte. Die Mitarbeiter haben Nadeln gesetzt, woher sie stammen: 70 Länder sind markiert. Die meisten stecken in Deutschland und Polen, viele in Marokko, der Türkei, auf dem Balkan. Eine steckt in Neuseeland: Dort kommt ein IT-Techniker her. Drei Viertel der Belegschaft, sagt Kurz-Möller, sind Versandmitarbeiter, die anderen Fach- und Führungskräfte. 100.000 Pakete gehen täglich raus In der gigantischen Halle fallen weder die einen noch die anderen auf. Alle paar Momente surrt ein Staplerfahrer vorbei, pickt einen Karton mit einer Ware aus dem Regal, die ein Kunde wenige Minuten vorher im Internet bestellt hat. Was drin ist? Das weiß allein der Scanner. Denn es ist keineswegs so, dass an dieser Stelle, P 1, C 125, Fach 320, gebündelt nur die Rasenmäher stünden. Vielmehr wurden sie nach dem Prinzip der &bdquo;chaotischen Lagerhaltung" einsortiert: Der Mäher kommt dorthin, wo gerade Platz ist, egal, was links und rechts daneben liegt. Diesen Platz verlässt er erst, wenn ein Kunde ihn haben will. 2,6 Millionen Artikel lagern in Werne, täglich gehen 100.000 Pakete raus. Bei Amazon trägt der Standort das Kürzel DTM 1, benannt nach dem nächsten Flughafen in Dortmund. Das Logistikzentrum auf der Marburg werde folglich PAD heißen, benannt nach Paderborn, sagt Kurz-Möller. Auf diese Weise falle die Orientierung innerhalb des Konzerns leichter; niemand könne verlangen, dass etwa Jeff Bezos, Gründer und reichster Mensch der Welt, eine Ahnung habe, wo Oelde oder Werne liege. Probleme für den heimischen Einzelhandel? Das Logistikzentrum PAD wird in Deutschland das 14. sein. Anders als jenes in Werne, wird es auch Kleinteile verschicken, solche unter zwölf Kilo. Bedeutet: Die Automatisierung ist eine andere. Roboter, kaum größer als ein Flughafen-Handgepäck, werden über den linien-markierten Boden flitzen und die Kleinteile in einem Netz einsammeln. Kann sein, dass Amazon und DHL sie dann nach Gütersloh bringen, kann sein, weiter weg. Um den stationären Einzelhandel müsse sich in Rheda-Wiedenbrück oder Gütersloh wegen Amazon dennoch niemand sorgen, versichert Kurz-Möller; dass sich die Einzelhandelslandschaft an den Standorten zum Schlechten verändere, sei nach den bisherigen Beobachtungen nicht der Fall. In Werne, sagt Wirtschaftsförderer Kramer, sei eher der umgekehrte Effekt eingetreten: Die 2.000 Leute hätten nun mehr Geld im Portemonnaie, das trügen sie auch in die örtlichen Geschäfte. Negative Auswirkungen auf den Einzelhandel seien allenfalls überregional festzustellen. Wenn überhaupt.

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