Missbrauch in der Katholischen Kirche: "Jetzt ist die Kirche selbst gefordert"

Gütersloh. Das Thema hat längst eine historische Größenordnung: Danach sollen in Deutschland zwischen 1946 und 2014 insgesamt 3.677 sexuelle Vergehen durch 1.670 Kleriker an überwiegend männlichen Minderjährigen begangen worden sein. 197 Betroffene verzeichnet die Missbrauchsstudie im Erzbistum Paderborn. Seitdem sind der Kirche drei neue Fälle gemeldet worden, wie das Generalvikariat bestätigt. Es handelt sich um Priester und Kirchenmitarbeiter. Die Staatsanwaltschaft Paderborn prüft in mindestens zehn weiteren Fällen, ob sie Ermittlungen gegen Priester beziehungsweise Mitarbeiter des Erzbistums einleitet. Meisten Fälle könnten verjährt sein Sie hatte im Zuge der Missbrauchsstudie die Personalakten von noch lebenden Beschuldigten angefordert, um diese auf strafrechtliche Relevanz und mögliche Verjährungen zu untersuchen. Die meisten Fälle könnten bereits verjährt sein, schließlich sind 87 der 111 Beschuldigten mittlerweile verstorben, 13 der noch lebenden 24 Kleriker sind in Rente. Und Gütersloh? Während die Führung in Paderborn durch Erzbischof Hans-Josef Becker sich für einen konsequenten Weg der Transparenz entschieden hat, strahlt seine Offenheit nur schwach bis an die Dalke. Das Thema wird nicht mit Gläubigen diskutiert, höchstens intern besprochen und auch auf Nachfrage der Presse nur zögerlich bearbeitet. Niemand schaut kritisch auf Gütersloh Die Pastorale Leitung fliegt gerade so weit unter dem kirchlichen Radar entlang, dass niemand kritisch auf Gütersloh schaut – das Thema ist so schwierig, dass man vor Ort womöglich froh ist, wenn das übergeordnete Paderborn Briefe an Gläubige versendet und Abbitte leistet. &bdquo;Für die Kirche, der ich mich als Priester verschrieben habe, schäme ich mich, dass solche Verbrechen bagatellisiert und Opfer nicht ernst genommen worden sind." Mehr Entschuldigung kann man von einem Erzbischof nicht einfordern. Aber darf er denn wiederum nicht von seinen Mitarbeitern auch in Gütersloh erwarten, dass man ihm vor Ort in den Kirchen den Rücken stärkt und ihn mit dieser Aussage nicht alleine lässt? Meisten handelnden Personen sind längst verstorben Der Polizei Gütersloh liegt keine Strafanzeige wegen Missbrauchs gegen Angestellte der katholischen Kirche vor. Aber für Gütersloh gilt, wie für das gesamte Erzbistum Paderborn: Die meisten handelnden Personen sind längst in Rente oder gar verstorben. Mögliche Vorfälle längst verjährt. Wer vermag denn noch zu sagen, was sich im Kath. Jugendwohnheim Kolpinghaus für heimatlose Jugendliche in der Diekstraße abgespielt hat, oder im Kath. Marienheim Unter den Ulmen? Die Spuren der Gütersloher Heime – ganz gleich welcher Konfession – verlieren sich, weil es sie nicht mehr gibt. Im Umkehrschluss muss man nichts suchen, wo es nichts gibt. &bdquo;Wir kennen keinen Fall von Missbrauch", so die Stellungnahme der Kirchenvertreter der katholischen Kirche Gütersloh in der Neuen Westfälischen. Es gibt Aussagen, die man gerne glauben möchte. Wenn der Pastoralraum keine Schuld auf sich geladen hat, sollte man Bürgermeister Schulz um eine handvoll Aufkleber bitten, um sie an alle Kirchenportale zu heften: &bdquo;Gütersloh – viel besser als gar nicht so schlecht". Kirche ist ein Spiegel unserer Gesellschaft Trotzdem: Es bedarf auch und gerade vor Ort mit der kirchlichen Basis der mutigen Diskussion um das Thema Missbrauch. Es muss ausgesprochen werden (dürfen), mit welchen Berührungsängsten man sich inzwischen begegnet, und es gilt, einen gemeinsamen Weg zu finden, um weiter gut miteinander umgehen zu können. Wie sonst soll verloren gegangenes Vertrauen jemals wiedergewonnen werden? Kirche ist ein Spiegel unserer Gesellschaft. Was sich in der katholischen Kirche an Missbrauch zugetragen hat, unterscheidet sich nicht wesentlich von dem, was auch die evangelische Kirche erleben musste, was sich auf einem Campingplatz in Lügde zugetragen hat oder allenthalben in den Familien selbst. &bdquo;Missbrauch ist ein Grundrisiko, mit dem Kinder in Deutschland heute aufwachsen." Diese Feststellung hat die Fernsehnation vor wenigen Tagen getätigt. Ein Satz, bei dem der Aufschrei der Öffentlichkeit fehlte. Wir laufen Gefahr, uns an die schlimmsten Dinge unseres Miteinander zu gewöhnen. Wer, wenn nicht Kirche, ist hier gefordert, in einer gesellschaftlichen Diskussion gegenzusteuern und einen neuen Kurs einzuleiten. Und die, denen man noch glaubt, weil sie ohne Verdachtsmomente sind, sollten den Anfang machen. Allen voran wohl Gütersloh.

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