Vor 25 Jahren war Gorbatschow in Gütersloh zu Gast

Gütersloh. Bevor er nach Gütersloh kam, hatte der Sicherheitsbeamte von Michail Gorbatschow seinen Job beim Personenschutz schon fünf Jahre sauber erledigt. Doch dann: Kapitulation. Die 4.000 Gütersloher drücken den ehemaligen sowjetischen Staatspräsidenten derart und nicht nur im übertragenen Sinn an ihr Herz - und Gorbi lässt das gerne mit sich geschehen - dass der Sicherheitsbeamte entnervt aufgibt. "So eine gefährliche Situation wie hier habe ich noch nie erlebt." Doch gefährlich ist es mitnichten, was sich damals am 9. März 1992, heute vor 25 Jahren, vor dem Rathaus abspielt. Im Gegenteil: Es ist ein Ausdruck von Herzlichkeit, eine Ekstase, wie man sie bis dahin nicht erlebt hatte: Gütersloh jubelt unfassbar intensiv den Gorbatschows zu, dem Michail und der Raissa. Anderthalb Tage verbringt das Paar in der Dalkestadt, Tage, die sich den Güterslohern ins Gedächtnis gegraben haben. Erst München, dann Gütersloh, schließlich Hamburg Die Gorbatschows sind auf Einladung von Bertelsmann da, sieben Tage insgesamt. Erst München, dann Gütersloh, schließlich Hamburg. Bundeskanzler Helmut Kohl, Bundespräsident Richard von Weizsäcker, Außenminister Hans-Dietrich Genscher, die Altkanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt: Sie alle huldigten dem Expräsidenten. Und dieser genießt es: Die Empfänge, die Besichtigungen, die Reden, vor allem aber das Bad in der Menge. Auf dem Münchner Marienplatz sind es 30.000, die immer wieder "Gorbi, Gorbi" skandieren oder mit "Gorbi for Kini" Gorbatschow zum bayerischen König machen wollen. In Gütersloh ist die Menge kleiner, doch die Emotion ist die gleiche. Der dicke westfälische Nebel, der es nötig macht, das Flugzeug von Gütersloh nach Paderborn umzulenken, ändert daran nichts. Als Michail und Raissa um 12.04 Uhr an der Bertelsmann-Hauptverwaltung ankommen und der von Helmut Uffenkamp gesteuerten Limousine entsteigen, nimmt der Applaus kein Ende. Im Konferenzraum wartet Reinhard Mohn auf den Staatenlenker, doch Liz Mohn, Mark Wössner und Horst Teltschik brauchen lange, um den Gast durch die Menge der Bertelsmänner ins Gebäude zu geleiten. Gorbatschow macht sich Notizen Dort: Arbeitsessen. Die Kantine serviert Zürcher Geschnetzeltes, Spätzle, Zuckerschoten, danach warmen Apfelkuchen mit Vanillesoße. Reinhard Mohn erklärt die Unternehmenskultur und die gesellschaftspolitische Aufgabe, die er dahinter sieht. Gorbatschow ist interessiert, macht sich Notizen. Wie die Balance zwischen zentraler Leitung und Dezentralisierung funktioniere, will er wissen. Mohn überreicht dem Gast als Geschenk 100.000 D-Mark. Das Geld soll in die von Gorbatschow gegründete "Stiftung für soziale, ökonomische und politische Studien" fließen. Ortswechsel. Chauffeur Uffenkamp bringt die Gorbatschows zum Rathaus, wo Polizeidirektor Horst Haase glaubt, alles geregelt und die Lage im Griff zu haben. Welch ein Irrtum! Als Gorbatschow aus dem 560er Mercedes steigt, sind die Leute nicht zu halten. Polizisten werden zur Seite gedrängt, Gorbatschow taucht in der Menge unter. Sieht er sich um, will er auf Abstand halten? Kein bisschen! Er schüttelt Hände, lässt sich drücken. Schnell macht das Gerücht die Runde, Gorbatschow habe im Trubel seine goldene Uhr verloren. Tatsächlich kommt eine Uhr abhanden: Sie gehört aber einem Sicherheitsbeamten, und aus Gold ist sie auch nicht. Doch bis das geklärt ist, haben Journalisten die Ente in aller Welt verbreitet. Mit der Folge, dass in den Tagen danach Anrufe von Juwelieren in der Bertelsmann-Hauptverwaltung eingehen, die sich anbieten, Gorbatschow - natürlich werbewirksam - mit einer neuen Uhr zu versorgen. Ovationen auch im Ratssaal. Stadtdirektor Gerd Wixforth und Bürgermeister Karl-Ernst Strothmann stehen Spalier, als sich der berühmte Gast ins Goldene Buch einträgt. 200 Repräsentanten des öffentlichen Lebens sind zugegen. Gorbatschow sagt ein paar Worte, Strothmann überreicht ihm einen Scheck über 5.000 Mark, den dieser gleicht weiterreicht an die Gütersloher Kinderhilfe Tschernobyl. Firmenbesichtigung bei Miele Weiter zur Firmenbesichtigung bei Miele. Fertigungsleiter Ludger Hellkühl und Rudolf Miele führen Gorbatschow durch die Werkshallen. Die Beschäftigten, die ihm immer wieder applaudieren, erleben einen Mann, der sich offen, locker, interessiert gibt. Gorbatschow nimmt sich Zeit, spricht mit den Leuten im Blaumann. Ein Kirgise und ein Ukrainer stellen sich ihm als "Landsmann" vor. Wie es ihnen bei Miele gefalle, fragt Gorbatschow. "Sehr gut", antworten die beiden. Bei Mohndruck, der nächsten Station, schreibt er Autogramme, zwinkert Damen zu, lässt sich von Herstellungsleiterin Brigitte Witzer einen Kuss auf die Wange drücken. Mohndruck-Geschäftsführer Thomas Middelhoff und Bertelsmann-Vorstand Gunter Thielen übergeben ihrem Gast zwei kostbare, in das rostrote Leder der Oasenziege eingebundene Bücher: Eine Sonderausgabe seiner Werkes "Der Staatsstreich" und ein Buch mit der Widmung "Dem verehrten Michail Sergejewitsch Gorbatschow zum Andenken an die Firma Mohndruck, Gütersloh, 9.3. 1992" in kyrillischen Buchstaben. Es enthält 2.600 Unterschriften von Mohndruck-Beschäftigten. Beim Betriebsrundgang, ein Wettlauf zwischen Expräsident und Fotografen, erweist er sich als Mann von großer, fast stoischer Gelassenheit. Im Kloster Marienfeld kommen Michail und Raissa abends mit einer Stunde Verspätung an. Der Tag war anstrengend, sie ziehen es vor, ihre Ruhepause in der Suite des Parkhotels zu verlängern. Ostwestfälische Folklore NRW-Ministerpräsident Johannes Rau überbrückt gekonnt, animiert das Jagdhornbläserkorps des Hegerings Harsewinkel und die Volkstanzgruppe Marienfeld, den wartenden 2.000 Zaungästen schon mal ihre Künste zu präsentieren. Als sie ankommen, freuen sich die Gorbatschows über die ostwestfälische Folklore. Beim Dinner - Freilandhuhn in Gemüsegelee, Möhneseezander auf Schnippelbohnen, geschmorter Ochsenschwanz mit Bitter-Biersoße und Rahmwirsing - unterhalten sie sich mit Rau, Brandenburgs Ministerpräsident Manfred Stolpe, mit Minister Wolfgang Clement, Krupp-Chef Gerhard Kromme, den Fraktionschefs Hans-Ulrich Klose (SPD) und Helmut Linssen (CDU). Auch Lew Kopelew, russischer Schriftsteller und Dissident, sitzt mit am Tisch. Den nächsten Morgen lassen die Gorbatschows ruhig angehen. Die Besichtigung der Stadtbibliothek, die des Buchclubs - abgesagt. Die kleine Modenschau, die Gerry Weber persönlich der Präsidentengattin zugedacht hatte - gestrichen. Vortrag über den "Weg zu einer neuen Zivilisation" Stattdessen lässt sich Raissa Gorbatschowa frisieren. Vom Salon Seidel lässt sie Ursula Seidel und Karin Brüggemann in ihre Suite kommen, sich das Haar waschen und neu legen. Zum Dank dürfen sich die beiden Gütersloherinnen ein großes Raissa-Porträt aussuchen, von der ehemaligen First Lady der UdSSR signiert. Ihr Ehemann absolviert derweil seinen Auftritt in der Bertelsmann-Stiftung. Eine Stunde lang, von Dolmetschern simultan übersetzt, spricht er über das Thema "Auf dem Wege zu einer neuen Zivilisation". Bei der anschließenden Pressekonferenz herrscht ein Auflauf, der selbst für den Medienkonzern ungewöhnlich ist. 200 Journalisten aus aller Welt berichten aus Gütersloh, selbst die "Kuwait News Agency" ist dabei. Gorbatschow verabschiedet sich mit einem Lächeln. Auf das mitunter erdrückende Interesse der Menschen angesprochen, antwortet er: "Wir nehmen es gerne hin, dass wir so herzlich und herzhaft aufgenommen werden. Es ist ein großes Glück zu sehen, mit welcher Einstellung das deutsche Volk mir begegnet." Die Mittagspause vor dem Flug nach Hamburg zu Gruner + Jahr verbringen die Gorbatschows im Hause von Liz Mohn am Amtenbrinksweg.

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