Vita und Erfolge

Gütersloh. Amanal Petros wird heute zum dritten Mal in Folge den Gütersloher Silvesterlauf gewinnen, es sei denn, er bricht sich den Fuß. Keiner der hiesigen Läufer ist auch nur annähernd in der Lage, dem 19-jährigen Äthiopier zu folgen. Dabei ist für Petros genau genommen gar kein Silvester; es ist nicht mal 2015. Die Äthiopier wünschen sich nach ihrem eigenen Kalender erst am 10. September einen guten Rutsch, und sie schreiben erst das Jahr 2007.Petros ist das heute mal egal. &bdquo;Ich werde dennoch wieder die tolle Atmosphäre genießen.“ Er mag den Lauf. Sportlich bringt ihn der zwar kaum weiter, aber die Stimmung auf dem Sportplatz Kamphof und die Schönheit des Rhedaer Forstes lassen ihn spüren, wie sich die anderen gut tausend Läufer fühlen, die die zehn Kilometer gerne als Einstimmung auf ihren Silvesterabend nehmen.Petros verzichtet auch deswegen ungern auf diesen Lauf, weil Gütersloh für ihn eine zweite Heimat ist. Er kennt Menschen und Gegend hier. Seit knapp zwei Jahren, seit sie die ehrenamtliche Vormundschaft übernommen haben, kümmert sich das Gütersloher Ehepaar Lydia und Reinhard Steinhoff um ihn. Sie regeln seinen Papierkram, achten auf seine Schulausbildung, passen auf, dass er nicht leichtfertig Verträge bei Haustürgeschäften unterschreibt. Die Steinhoffs sind die Alltags-Regler. Ohne die beiden hätte es der junge Afrikaner hierzulande schwer.Geschenkter Parka Im Januar 2012 war Petros in Deutschland angekommen, allein und mittellos. Draußen lag Schnee und Eis, doch er hatte nur ein T-Shirt an. Einem Flughafenangestellten aus dem Senegal tat der 16-jährige Flüchtling leid; er nahm ihn über Nacht bei sich auf, schenkte ihm einen Parka. Zusammen gingen sie zur Polizei, die half und Petros eine Zugfahrkarte nach Bielefeld besorgte. Dort, in einem Heim der Arbeiterwohlfahrt, war ein Platz frei.Zwischen Addis Abeba und Frankfurt liegen nur sieben Flugstunden, doch das drückt nicht annähernd aus, welche Welten dazwischen liegen. &bdquo;Wir waren arm“, erzählt Petros. &bdquo;Es gab kein Fahrrad, keinen Bus, kein Auto. Ich bin jeden Tag sechs Kilometer zu Fuß zur Schule gelaufen.“ Sein Heimatdorf liegt bei Wukro, 800 Kilometer nördlich der Hauptstadt, auf 1.700 Meter. Eine Höhe, die Langstreckenläufer produziert. In solcher Luft entstehen die vielen roten Blutkörperchen, die den Sauerstoff transportieren.Amanal war zwei Jahre alt, als seine Mutter mit ihm aus Eritrea, dem Nachbarland, floh. Sie flüchteten zu Verwandten, die ihnen in den Wirren des äthiopisch-eritreischen Krieges Zuflucht gewährten. Die dörfliche Gemeinschaft bot materielle Sicherheit und Halt. Wo sein Vater ist, weiß Petros nicht. &bdquo;Er war verschollen, da war ich drei. Ich würde ihn nicht mal erkennen.“ Seine Kindheit sei trotzdem glücklich gewesen. Mit seinen beiden Halbschwestern verstand er sich bestens.Doch irgendwann war die Idylle verflogen. &bdquo;Mein Leben war in Gefahr“, sagt Petros."Ich muss hier weg" Wer ihn bedrohte und warum, dazu äußert er sich nur vage. Er sei in Konflikt mit der Staatsmacht geraten. Ob politische oder religiöse Gründe oder seine eritreische Herkunft eine Rolle spielten, sagt er nicht, &bdquo;mir war nur klar, ich muss hier weg.“ In Afrika, wo Kindersoldaten ganze Regime gefährden, werde man in vielen Dingen halt schneller erwachsen als in Europa. Freunde hätten ihn in aller Eile nach Addis Abeba und in Sicherheit gebracht. &bdquo;Als ich dort ins Flugzeug stieg, wusste ich nicht mal, wo es hingeht.“In Bielefeld fragte sich Petros mit einem Zettel zum Bundesamt für Migration und Flüchtlinge durch. Das Amt half; es organisierte eine Unterkunft in einem Clearinghaus der AWO für junge Flüchtlinge. Wer dort wohnt, hat Obhut, zumindest für die ersten Monate.Petros langweilte sich, begann zu laufen. Hinein in den Teuto, kreuz und quer, in einem Tempo, das andere Hobbyläufer erblassen ließ. Es dauerte nicht lange, da fiel das auch dem Heimleiter auf. Er rief beim TSVE Bielefeld an, Ausrichter des Hermannslaufes. Vereinstrainer Gerd Grundmann nahm Petros unter seine Fittiche. Doch Grundmann achtete nicht nur aufs Sportliche, sondern auch auf alles andere. Er entwickelte sich zum väterlichen Freund. &bdquo;Ich wäre hilflos und einsam gewesen" &bdquo;Es gibt viele Menschen, die mich hier unterstützen, dafür bin ich dankbar“, sagt Petros. Er habe das Gefühl, angekommen zu sein. Ohne Grundmann und die Steinhoffs hätte er Probleme gehabt, sein neues Leben zu meistern. &bdquo;Ich wäre hilflos und einsam gewesen. So aber weiß ich, was ich will.“Was er will: Asyl, und für Deutschland bei Olympia laufen. Aber zweieinhalb Jahre, nachdem er den Asylantrag gestellt hat und 13 Monate nach der formellen Anhörung wartet er noch immer auf den Bescheid. Dass die Dinge derart lange brauchen, wundert ihn, doch er wolle nicht drängeln. &bdquo;Ich bin froh über die Chance, die mir gewährt wird. Ich empfinde Deutschland als ein offenes, freundliches Land.“Die Steinhoffs waren Petros im Oktober 2012 begegnet. Lydia Steinhoff engagierte sich seit einiger Zeit bei &bdquo;Do it!“, einem Projekt, das sich um ehrenamtliche Vormundschaften für junge Flüchtlinge kümmert (siehe Kasten). Sie besuchte Seminare, hörte Vorträge, büffelte Asylrecht. Schließlich stellte ihr Projektleiterin Sabine Ipsen-Peitzmeier die Frage, auf die alles hinauslief: Wären Sie und Ihr Mann bereit, sich um einen jungen Äthiopier zu kümmern? Sie waren. Das erste Treffen fand im Bielefelder Jugendamt statt. &bdquo;Es passte auf Anhieb. Wir waren uns sofort sympathisch“, sagt Lydia Steinhoff.Kundig gemacht Sechs Monate, bis April 2013, dauerte es, bis das Familiengericht Bielefeld den Steinhoffs bestätigte, sie könnten die Vormundschaft übernehmen. Die Gütersloher hatten sich längst in die Materie eingefuchst. Sie hatten sich Landesführer besorgt, über Äthiopien gelesen und sich in weiteren Rechtsfragen kundig gemacht. &bdquo;Wir schauen, dass es in der Schule läuft, dass mit seiner Wohnung alles geregelt ist, und wir halten den Kontakt zu den Behörden“, sagt Reinhard Steinhoff.Ein- bis zweimal die Woche fahren die Steinhoffs zu Amanals 46-Quadratmeter-Wohnung in Bielefeld-Sieker und schauen nach dem Rechten. &bdquo;Wir haben uns verständigt, dass er den ganzen Papier- und Behördenkram besser uns überlässt“, sagt Reinhard Steinhoff. Mit Trainer Grundmann seien sie sich einig, dass bei allem Sport die Ausbildung nicht zu kurz kommt: Nächstes Jahr will Petros seinen Realschulabschluss absolvieren und sich danach eine Lehrstelle suchen. &bdquo;Mir ist klar, dass ich mich nicht allein aufs Laufen verlassen kann“, sagt Amanal. Das Deutsch, auf das er das sagt, ist inzwischen schon recht flüssig.Petros hat bereits einige Titel geholt, der Bundestrainer hat ein Auge auf ihn. &bdquo;Er hat mir gesagt, ich sei ein Talent, aber ich müsste noch mehr laufen.“ Um in die Topspitze zu gelangen, müssten es 200 bis 300 Kilometer die Woche sein, doch Amanal kommt nur auf 80 bis 90. &bdquo;Das reicht im Augenblick. Solange ich nicht weiß, wie es endgültig mit mir weitergeht, halte ich mich zurück.“Freilich hat er jetzt, zwischen den Tagen, durchaus einige Male die Laufschuhe angezogen – in Form bleiben, trotz der Weihnachtsfeste bei Steinhoffs, Grundmann, Freunden. Für die Konkurrenz beim Silvesterlauf, so ehrenhaft sie sich müht, wird es locker reichen. Projekt "Do it"&bdquo;Do it!“ vermittelt ehrenamtliche Vormünder für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Davon kommen jährlich etwa 2.000 bis 3.000 nach Deutschland. Gegründet in Wuppertal, gibt es inzwischen auch in Bielefeld eine Gruppierung. Die Vormünder kümmern sich um schulische Belange, altersgerechte Unterbringung, medizinische Versorgung und aufenthaltsrechtliche Vertretung. Lydia Steinhoff (65) hat früher als Sekretärin bei der Baufirma Oevermann in Gütersloh gearbeitet. Reinhard Steinhoff (66) war bei Miele zuständig für die Grundstücksverwaltung. Die Steinhoffs kümmern sich ferner um Mündel aus Bangladesh und Kamerun. Beide sind inzwischen weitgehend selbstständig. Lydia Steinhoff wurde kürzlich in Berlin von Außenminister Steinmeier und Wirtschaftsminister Gabriel mit 600 anderen Engagierten aus ganz Deutschland für ihren Einsatz in der Flüchtlingshilfe geehrt.

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