BIELEFELD

Bielefelder lebt ohne Beine

Martin Ryng kam mit verstümmelten Gliedmaßen zur Welt

07.06.2011 | 07.06.2011, 10:55
Der Künstler Martin Ryng in seinem Wohnzimmer in Bielefeld, das in kräftigen, freundlichen Farben gestaltet ist. - © FOTO: ANDREAS FRÜCHT
Der Künstler Martin Ryng in seinem Wohnzimmer in Bielefeld, das in kräftigen, freundlichen Farben gestaltet ist. | © FOTO: ANDREAS FRÜCHT

Bielefeld. Die einen hat das Schicksal nicht gefragt, die anderen haben sich freiwillig entschieden: Diese Zeitung bietet Einblicke in den Alltag von Menschen, die anders leben als andere. Sie führen ein Leben ohne etwas, das für die meisten unverzichtbar scheint.

Wie er aus seinem Wohnzimmer ins Arbeitszimmer kommt? Ganz einfach. Martin Ryng springt von seinem Sessel und rollt sich quer durch die Wohnung. Beinahe schneller, als das Auge blicken kann. Der Bielefelder hat sich ganz praktisch mit seinem Schicksal arrangiert: Seit seiner Geburt führt der 26-Jährige ein Leben ohne Beine und mit extrem kurzen Armen.

Information

Fakten zu Contergan

  • Das Medikament Contergan vom Pharmaunternehmen Grünenthal kam im Oktober 1957 in den Handel. Es versprach Menschen – auch werdenden Müttern – eine ruhige, angenehme Nacht.
  • In der Folge kamen rund 5.000 schwer missgebildete Kinder zur Welt.
  • Nach großen Protesten von Presse und Öffentlichkeitsarbeit wurde Contergan im November 1961 vom Markt genommen.
  • Am häufigsten betroffen sind bei 53 Prozent der Geschädigten die Arme und in 25 Prozent der Fälle die Arme und die Beine.(alwa)

"Wenn ich durch die Stadt gehe, wäre es mir manchmal lieber, wenn die Leute mich direkt ansprechen würden, anstatt auf mich zu schauen", sagt der freischaffende Künstler, der vor knapp sieben Jahren aus Niederschlesien nach Deutschland gekommen ist. Damals zog er zu einer Bekannten nach Bielefeld, besserte ein Jahr lang seine Deutschkenntnisse auf und begann dann ein Studium der Grafik und Kommunikationsmedien an der Fachhochschule Bielefeld, das er 2009 abschloss.

"Mutter wusste, dass ich so geboren werden würde"

"Meine Mutter wusste seit dem dritten Schwangerschaftsmonat durch eine Ultraschalluntersuchung, dass ich so geboren werden würde, wie ich bin", erzählt Martin Ryng, dessen Behinderung durch einen genetischen Fehler bedingt ist.

Viele Ärzte gehen aber mittlerweile davon aus, dass der 26-Jährige vom Medikament Contergan geschädigt ist; offiziell wurde diese Diagnose jedoch abgelehnt. Eigentlich sei er für diese Schädigung viel zu spät geboren, sagt er. "Generell war das Medikament 1984 längst zurückgezogen. Aber durch Umwege oder Spenden könnte meine Mutter es doch bekommen haben." Nach seiner Geburt seien im Krankenhaus in Polen alle Akten vernichtet worden.

200 bis 300 Prozent mehr Leistung müsse er geben als andere Menschen, sagt der junge Mann, der in der Kunst seine Erfüllung findet: "Meine Bilder sprechen meine Sprache." Ob mit Bleistift und Papier, als Fotomontage, in 3-D-Technik oder mit digitaler Malerei - Martin Ryng nutzt verschiedene Methoden für seine Kunst. Kürzlich zeigte er eine Ausstellung der Zehn Gebote auf Glas im Liborianum in Paderborn. "Es gibt bislang keinen Künstler, der die Zehn Gebote gemalt hat", sagt Ryng, der selbstbewusst von sich sagt, dass er "sehr gut" ist. "Durch die Kunst kann ich eine andere Seite von mir zeigen."

"Manchmal frage ich mich, warum ich geboren bin"

Als gläubigen Menschen bezeichnet sich der Bielefelder, gläubig - aber nicht frei von Zweifeln. "Manchmal frage ich mich schon, warum ich überhaupt geboren bin. Wo ist mein Weg? Wo sind meine Ziele?" Nicht nur er selbst sei durch sein Schicksal behindert - es behindere auch manchmal seine Mitmenschen. "Diese bekommen oft einen Schock, wenn sie mich sehen."

Etwa beim Schwimmen, Martin Ryngs zweiter Leidenschaft - bei ihm vergleichbar mit einer Mischung aus "Schlange und Hund gleichzeitig", wie er sagt. "Viele Leute gehen weg, wenn ich im Schwimmbad bin. Sie scheinen zu glauben, meine Behinderung sei ansteckend." Nicht anklagend, aber abgeklärt betrachtet er dieses Verhalten: "So habe ich wenigstens mehr Spaß, weil ich das Schwimmbad für mich allein habe."

Fast rund um die Uhr ist Ryng auf fremde Hilfe in seinem Haushalt angewiesen - ein Umstand, der ihm, der sich als "schwierigen Menschen" bezeichnet, nicht immer behagt. "Einmal wollte ich unbedingt ohne Begleitung mit der Stadtbahn fahren. Da bin ich prompt aus meinem Elektrorollstuhl gefallen. Manchmal habe ich eben einen Dickkopf." Seine Konsequenz: Draußen hat er nun immer einen seiner Begleiter dabei.

"Sie hat gewusst, dass ich gewinnen kann"

Darüber, dass diese ihn in seiner Wohnung von Zimmer zu Zimmer tragen wollen, setzt er sich aber weiter hinweg. Um seine Eigenständigkeit zu bewahren - "und außerdem ist es wichtig für meinen Rücken, dass ich mich bewege und nicht immer nur sitze".

Martin Ryngs Mutter wusste früh, dass ihr Sohn behindert sein würde - und hat sich trotzdem für das Baby entschieden. Das gibt dem 26-Jährigen Halt: "Sie hat bestimmt schon damals gewusst, dass ich gewinnen kann."