Bielefeld

Eine Fakultät von Weltruf

40 Jahre Geschichtswissenschaft: Wie drei Professoren die Historie neu schrieben

23.10.2013 | 23.10.2013, 11:14
(v.l.) Die Professoren Neithard Bulst, Friedrich Fulda, Reinhart Koselleck, Erich Christian Schröder, Jürgen Kocka, Hans-Ulrich Wehler und Karl Peter Grotemeyer 1980. - © FOTO: UNIVERSITÄTSARCHIV
(v.l.) Die Professoren Neithard Bulst, Friedrich Fulda, Reinhart Koselleck, Erich Christian Schröder, Jürgen Kocka, Hans-Ulrich Wehler und Karl Peter Grotemeyer 1980. | © FOTO: UNIVERSITÄTSARCHIV

Bielefeld. Als die Grundlage für die Wissenschaft von Weltruf geschaffen wurde, grasten Kühe auf der Wiese, wo heute die Universität Bielefeld steht. Hans-Ulrich Wehler, 1971 als Professor für Allgemeine Geschichte des 19./20. Jahrhunderts in Bielefeld angekommen, hat es selbst gesehen. Wehler war es, der maßgeblich dafür sorgte, dass die Fakultät für Geschichtswissenschaft der Uni Bielefeld in den folgenden Jahrzehnten enormen Ruhm erlangte. Heute feiert sie ihre eigene Geschichte. Sie wird 40 Jahre alt.

"Es waren goldene Jahre", sagt Wehler (82) rückblickend auf die ersten etwa 25 Jahre an der Uni Bielefeld. "Wir haben anfangs alle guten Leute bekommen, die wir haben wollten." Wehler, der vor seinem Ruf nach Bielefeld in Berlin und Köln lehrte, kannte diese besten Historiker, er lockte sie mit einem neuen geschichtlichen Forschungsansatz, mit hervorragender Ausstattung, mit Teamgeist und dem guten Essen seiner Frau Renate an die Reformuniversität. Unter anderem die bis heute prägenden Professoren Jürgen Kocka (72) und Reinhart Koselleck (†) ließen sich überzeugen. "Wir waren ein fantastischer Verein", sagt Wehler. Der Zusammenhalt war groß, "es herrschte eine sozialliberale Grundstimmung"; und Hilfe von außen gab es auch reichlich. Der damalige Wissenschaftsminister und spätere Ministerpräsident Johannes Rau setzte sich stets für die Uni und im Besonderen für die Geschichtsprofessoren ein, wenn es Probleme gab; ebenso Uni-Rektor Karl Peter Grotemeyer und Uni-Kanzler Eberhard Finnhaber. Beide waren rund 20 Jahre an der Spitze der Hochschule. "Ein Glücksfall für uns", sagt Wehler.

Ein heute undenkbarer Glücksfall war zugleich "das unbegrenzte Konto für Bibliothekskäufe", erinnert sich Wehler. Damit war es möglich, selbst Nachlässe berühmter Forscher für 300.000 Mark zu kaufen. Wehler hat es gemacht. Kürzungen waren kein Thema. Diese beschwingte Zeit, geprägt von dem neuen, theoriegeleiteten sozialgeschichtlichen Ansatz der Bielefelder Historikerschule, sorgte für einen "Riesenoutput an Büchern", wie Wehler resümiert. Die Bielefelder Wissenschaftler erlangten – und verlangten – die Deutungshoheit vor allem über die deutsche Geschichte.

Die goldene Zeit dauerte bis Anfang der 90er Jahre – und hallt bis heute nach. "Überall im Ausland kennt man die Bielefelder Geschichtsfakultät und ist ihr gegenüber völlig positiv eingestellt", sagt Professorin Angelika Epple. Als Dekanin arbeitet sie daran, den Weltruf zu verteidigen; die Welt hat sich jedoch verändert, ebenso die Geschichtswissenschaft. Heute, sagt sie, sei ein globalerer Blick nötig, ebenso "die Betrachtung des Individuums, nicht nur der Strukturen". Auf dem Erbe der Fakultätsahnen aufbauend untersuchen die Wissenschaftler weltweite Verflechtungen und kulturelle Aspekte ebenso wie die Sozialgeschichte, die die Fakultät berühmt gemacht hat.

"Geblieben ist auch das politische Selbstverständnis", erklärt Dr. Bettina Brandt, Wissenschaftliche Geschäftsführerin der Fakultät. Die Fragen entwickeln die Wissenschaftler anhand der Gegenwart, etwa zu Migration, Armut oder Arbeit, gesucht werden die Antworten auf internationaler Ebene, unter Beibehaltung "der traditionellen Theorieorientierung", erläutert Dekanin Epple, "der Selbstreflexion", wie Brandt ergänzt, der Frage, warum ein Gegenstand untersucht werden soll oder muss.

Vielleicht verfliegt der Weltruf der Anfangsjahrzehnte an der Geschichtsfakultät allmählich. Vielleicht ist er aber in der modernen Zeit in der Form nicht mehr halt- und erreichbar. Zum einen sind die Rahmenbedingungen andere: Heute 1.500 Studenten, in den 70er Jahren etwa 600; heute strenge Haushaltsplanungen, früher unbegrenzte Budgets, heute 14 Professuren und damit nur eine mehr als zur Anfangszeit. Zum anderen ist das Forschungsfeld differenzierter, "wir Bielefelder sind vielstimmiger geworden", sagt Epple.

International renommierte Forscher-Namen hat die Fakultät nach der glorreichen Wehler-Kocka-Koselleck-Zeit dennoch hervorgebracht, unter anderem Paul Nolte, Manfred Hettling, Ute Frevert und Joachim Radkau.