
Bielefeld. Wenn es kalt war, fiel morgens erst der Blick in den Kohlebunker. Ist er noch voll genug? Doch die Zeit des Bangens ist für Stadtwerke-Geschäftsführer Friedhelm Rieke vorbei – zum Jahreswechsel endet eine Ära. Die Stadtwerke stellen nach 112 Jahren die Kohle-Verstromung in ihrem Kraftwerk an der Schildescher Straße ein. Erdgas wird sie als Energiequelle ersetzen.
Thilo Wieland steuert in zehn Metern Höhe Kran I, der am 11. Januar den letzte Kohle-Zug auf den zwei gepachteten Stadtwerke-Gleisen am Heizkraftwerk entlädt. Der Greifer fasst eine Tonne und schüttet sie aufs Förderband Richtung Bunker. Kran 3 lädt die Kohle an der Übergabestation aufs Schrägband, das sie zu den Kesseln fördert. Seit 1900 läuft so täglich die Erzeugung von Strom, seit 1955 auch von Fernwärme.
112 Jahre Kohle-Verstromung
- 1899 Bau des Kohlekraftwerks an der Schildescher Straße für 2 Millionen Mark.- 1900: Inbetriebnahme. Liefert Strom für Beleuchtung, Straßenbahn und 262 Häuser. Stromnetz: 63 Kilometer.
- 1944/45: Weitgehende Zerstörung durch Bomben.
- Oktober 1945: Wiederinbetriebnahme, bis 1951 Erweiterung und Neubau.
- 1955: Umbau zu Heizkraftwerk mit Kraft-Wärme-Kopplung für Fernwärme.
- 1956: Bau des heutigen 120 Meter hohen Schornsteins.
- Ende 2012: Einstellung der Kohle-Verstromung. Weiterbetrieb als Gaskraftwerk.
Doch im Januar ist Schluss. Für Instandhalter Manfred Helm, der seit 18 Jahren die Kohleanlieferung betreut, und seine 23 Kollegen "ein bewegender Augenblick", wie Stadtwerke-Geschäftsführer Wolfgang Brinkmann sagt: "Sie waren stolz, für das Kraftwerk zu arbeiten." Er betont aber, keiner werde entlassen: "Sie erhalten andere Arbeitsplätze im Unternehmen."
Wehmut schwingt bei den Stadtwerkern mit. Die Kohle und die Geräusche der Kräne gehören zum Alltag dazu. Auch wenn die Beschaffung ihre Tücken hat, wie Ulrich Gieselmann erzählt, der für den Einkauf zuständig ist. Denn das Bielefelder Kraftwerk benötigt für seine "Wanderrost"-Kessel eine besondere Körnung der Kohle: nicht zu fein, damit sie nicht durch den Rost fällt, nicht zu grob, weil sie schlecht brennt. Aus Ibbenbürener und Ruhrgebiets-Kohle kam eine für Bielefeld passende Mischung.
Doch die gibt es seit zehn Jahren auf dem deutschen Markt nicht mehr. Also muss sie in Polen beschafft werden – "da ging schon mal ein Zug verloren", merkt Geschäftsbereichsleiter Ingo Kröpke an: "Es kam vor, dass an der Grenze Waggons auf dem Abstellgleis landeten", ergänzt Gieselmann. Probleme bereitet auch, wenn dringend benötigte Kohle im Waggon festfriert. Trotzdem schafften es die Stadtwerke immer wieder, dass genug Kohle im Bunker war und im tiefsten Winter die Lichter nicht ausgingen.
Das soll auch so bleiben. Trotz Energiewende. Damit die Stadtwerke künftig die Spitzen bei Strom und Fernwärme selbsterzeugt abdecken können, wird künftig Gas in drei der fünf Kraftwerkskessel verbrannt – auch wenn es teurer ist als Kohle. Weitere Ersatzenergie liefern das neue Holzkraftwerk an der Schildescher Straße und die Biogasanlage in Niederdornberg. Die Grundlast mit gut 60 Prozent bei der Fernwärme schafft die Müllverbrennungsanlage. "Der Ofen brennt schließlich immer", so Klaus Danwerth, Leiter der Fernwärme-Erzeugung.
Das Aus für die Kohle-Verstromung, "die Kernstück der Stadtwerke-Geschichte, aber auch der Stadt- und Industrieentwicklung in Bielefeld war", läuteten schärfere Umweltstandards ein, sagt Rieke: "Wir hätten neu bauen müssen." Darauf verzichteten die Stadtwerke 2008 nach Protesten und heftiger Debatte, obwohl Kohle billiger als Gas wäre. Sie gilt aber auch als klimaschädlicher.
Doch allein mit erneuerbaren Energien, den kleineren Kraftwerken vor Ort und als vorbildlich geltender Kraft-Wärme-Kopplung kommen die Stadtwerke auf Dauer nicht aus, wenn der Atomstrom aus Grohnde 2018 abgeschaltet wird. Deshalb setzen sie auf ein neues Gemeinschafts-Gaskraftwerk, das ab 2018 in Krefeld-Uerdingen geplant ist und rund ein Drittel des Bielefelder Stroms decken soll. Insgesamt wollen die Stadtwerke bis 2020 rund 280 Millionen Euro in die Strom- und Wärmeversorgung investieren. Dazu zählt auch der Ausbau des Fernwärmenetzes.
Rund drei Millionen Euro wird der aus Sicherheitsgründen notwendige Abbau von Kran und Förderanlagen der Kohleverstromung kosten, schätzt Danwerth, obwohl das Heizkraftwerk sowie der stadtbildprägende 120 Meter hohe Schornstein stehen bleiben. Die Verschrottung ist für 2013 geplant.
1.967 Güterzüge mit Kohle
Das Kraftwerk an der Schildescher Straße lieferte seit 1900 rund 20 Milliarden Kilowattstunden Strom aus Steinkohle. Zum Vergleich: Bielefeld und Werther verbrauchen heute pro Jahr 1,8 Milliarden. In den 112 Jahren brachten 1.967 Güterzüge 2,75 Millionen Tonnen Kohle zum Kraftwerk. Die Züge hatten 22 bis 25 Waggons, die rund 1.400 Tonnen fassten. Der Tagesdurchsatz am Kraftwerk betrug 500 bis 600 Tonnen Kohle, der Bunker fasst 11.000 Tonnen. Die Kohle hatte an der Stadtwerke-Stromerzeugung zuletzt einen Anteil von rund einem Drittel. Der Strom-Absatz lag 2011 bei 3,2 Millionen kWh, die Zahl der Hausanschlüsse bei 64.758.