Bielefeld. Es ist der "Angstklassiker" für jede Frau, für Eltern ist es die Ursache zahlloser schlafloser Nächte: Ein Unbekannter stellt sich in der Dunkelheit einer jungen Radlerin (24) in den Weg, reißt sie zu Boden und fällt über sie her. So geschehen am vergangenen Freitag an der Heeper Straße. Nur sechs Tage zuvor hatte ein Sexualstraftäter an der Nowgorodstraße eine 19-Jährige ins Gebüsch gezerrt. Zum Glück wehrte sie sich ausreichend (die NW berichtete).
Überfallartige Vergewaltigungen in der Öffentlichkeit (siehe Karte), wie die Polizei es nennt, sind laut Statistik selten. Dafür werden sie aber besonders von der Bevölkerung wahrgenommen: 2010 registrierte die Polizei 40 Vergewaltigungen oder schwere sexuelle Nötigungen in Bielefeld, aber nur drei davon blieben besonders im Gedächtnis. Im Bielefelder Westen (Schloßhof-, Teichstraße und Nordpark) hatte eine Serie von Vergewaltigungen innerhalb kurzer Zeit für Entsetzen gesorgt. Bis heute wird nach dem Täter gefahndet.
2011 waren es 42 schwere Sexualstraftaten, nur sechs davon waren überfallartig, nur zwei sorgten für Aufsehen – diesmal im Osten der Stadt (Prießallee, Elpke) –, weil dort ein Mann mit Sturmhaube seine Opfer in Hauseingängen abpasste und sexuell nötigte. Aufgeklärt wurden auch diese Überfälle nicht.
Auch wenn es bei den jüngsten Fällen keine Hinweise auf die Täter von 2010 und 2011 gebe, so Polizeisprecher Heino Buschmann, entwickeln sich die Ermittlungen ähnlich: Erhoffte Zeugen blieben aus, die Vernehmungen der Opfer brachten keine neuen Erkenntnisse. Wieder tritt die Kripo auf der Stelle.
"Die meisten Täter kommen aus dem Umfeld des Opfers oder sind flüchtig bekannt", sagt Kripoexpertin Uta Raddatz. Überfälle wie im Nordpark oder jetzt auf die Radfahrerin an der Heeper Straße seien Ausnahmen.
Seit Jahrzehnten habe die Präventionsexpertin die Erfahrung gemacht, dass sich viele Opfer später an Männer erinnern, bei denen sie schon in der Disko oder am Bus ein seltsames Gefühl hatten. "Die meisten Täter suchen sich ihre Opfer vorher aus, nehmen Augenkontakt auf, mustern die Frauen unangenehm – später nehmen sie die Verfolgung auf." Auch bei den Fällen im Nordpark und auf einer Brache oberhalb der Schloßhofstraße geht Raddatz heute davon aus, dass der Täter nicht lange in seinem Versteck gehockt habe. Wichtig sei es deshalb, auf das eigene Bauchgefühl zu achten und lieber ein Taxi zu rufen oder Passanten um Begleitung zu bitten.
Kommt es trotzdem zum Übergriff, hilft Widerstand – Studien belegen, dass Gegenwehr das Aggressionspotential der Täter nicht erhöht. "Im Kopf des Täters läuft ein Film ab, eine Macht-phantasie. Wer die durch Schreien, Kratzen oder Beißen unterbricht, zerreißt auch seinen Film." So ließen alle Täter von den wehrhaften Frauen in Bielefeld – wie an der Teichstraße, August-Bebel-Straße, Unstrutweg und zuletzt an der Nowgorodstraße – ab.
Obwohl Raddatz viele Tipps parat hat, wie Frauen sich vor solchen Szenarien schützen können (ein Schrillalarm sei hilfreich), ist ihr diesmal eines wichtig: "Die junge Frau auf dem Weg nach Heepen hatte keine Chance. Plötzlich stand vor ihr ein Mann. Als sie deshalb langsamer wurde, hat er sie vom Rad gerissen. Das warunvorhersehbar." Doch genau das sorgt aktuell für Angst.
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Schwer zu ertragen
Vergewaltiger in der ÖffentlichkeitVON JENS REICHENBACH
Statistisch gesehen sitzt der typische Vergewaltiger in den eigenen vier Wänden. Von 1.945 Vergewaltigungsopfern waren laut Landeskriminalamt NRW im vergangenen Jahr 1.197 mit den Tätern bekannt oder sogar verwandt. Lediglich ein Viertel der Opfer kannte den Täter nicht einmal flüchtig.
Was macht also den Überfall im dunklen Park oder an der einsamen Straße so beängstigend? Während die Täter Zuhause ihre Opfer über Jahre mit ihren Machtphantasien belästigen und belasten, immer öfter und immer mehr Grenzen überschreiten und somit ihre Opfer in einem langen Prozess zerstören, bedient der Unbekannte hinter dem Baum mit einem Mal und plötzlich alle Urängste von Mädchen, Frauen und Eltern. Gerade die Vorstellung, dass ausgerechnet dieser Täter noch frei herumläuft und jederzeit wieder zuschlagen könnte, torpediert das Sicherheitsgefühl vieler Menschen – selbst in einer Stadt wie Bielefeld.
Der fast schon stereotype Hinweis der Ermittler auf die statistische Unwahrscheinlichkeit, Opfer solcher Täter zu werden, ist nicht nur aus Sicht der tatsächlichen Opfer schwer zu ertragen. Nur erfolgreiche Ermittlungen und Festnahmen können hier für ein Aufatmen sorgen.
jens.reichenbach@ihr-kommentar.de