Bielefeld

Zu viel Schmerz für die Seele

Terry Balthasars Buch über eine Kindheit als Sexsklavin und die elffache Spaltung ihrer Persönlichkeit

Während der Therapie hat Terry Balthasar nicht nur eine erschütternde Autobiografie geschrieben. Sie dichtete und malte auch. Ihr Gemälde vom Wolfsrudel, das heute in ihrem Arbeitszimmer hängt, ziert das Cover ihres Buches. | © FOTO: JENS REICHENBACH

24.08.2010 | 24.08.2010, 00:00

"Sylvia", so nennt Terry Balthasar ihre meist nach außen handelnde Persönlichkeit – "sie arbeitet, sie organisiert, sie versucht das gemeinsame Leben zu ordnen". Doch es gibt andere: die einen produzieren Chaos, andere agieren nur innen, bis Gefahr droht. Dann ist Sylvia plötzlich weg. Sie wusste später weder was passiert war, noch was gesagt wurde.

"Das Leid solcher Gewalt- und Missbrauchsopfer ist so immens, dass es die normale Psyche nicht verkraften kann", erklärt Dr. Andrea Möllering, Chefärztin der Klinik für psychotherapeutische und psychosomatische Medizin am Evangelischen Krankenhaus. "Mit einer abgetrennten Persönlichkeit können die Patienten ihre Traumata wegpacken. Wir nennen das bewusstseinsfern halten", sagt Dagmar Hefftler, psychologische Psychotherapeutin der Klinik.

Der unbelastete Anteil der Persönlichkeit könne so weiter unbeschwert zur Schule gehen und sich auf den Alltag konzentrieren, so Möllering. Ein derart traumatisiertes Kind wäre dazu allein nicht mehr in der Lage.

Je nach Länge und Intensität der Gewalterfahrungen rutschen Menschen mit Persönlichkeitsstörungen auch als Erwachsene noch oft in andere Zustände – unbewusst, unkontrollierbar. "Es ist auch für Therapeuten beeindruckend, zu sehen, wie ein Patient plötzlich wie ein kleines Kind spricht, sich auch so verhält. Andere reagieren ganz unvermittelt aggressiv oder gewalttätig – oft gegen sich selbst", so Möllering.

Die Spaltung von Terry Balthasar war so ausgeprägt, dass "Sylvia" – der "leitende" Anteil – jahrzehntelang weder die täglichen Vergewaltigungen noch die "Rudelmitglieder" akzeptieren konnte. Sie selbst erlebte nur zwei Übergriffe. Erst 2006 las sie erstmals die Erinnerungsprotokolle der anderen und akzeptierte im Laufe der Therapie endlich auch deren Existenz.

"Einer der wesentlichen Meilensteine meines Heilungsweges", betont Balthasar. Heute kann die 44-Jährige, die sich weiterhin – vermutlich noch lange Jahre – in Therapie befindet, ihr Rudel kontrollieren. "Ich muss mich sehr dafür konzentrieren."
Im Buch beschreibt sie ihre Persönlichkeiten unterschiedlichster Entwicklungsstufen:

"Hanni" ist 6 Jahre. "Sie will endlich mal in Ruhe schlafen. Sie hat Angst einzuschlafen und nicht zu hören, wenn er kommt." Hanni stellt sich stets ohne Arme dar: "Weil er sie so stark festgehalten hat."

"Jessy" ist 12 Jahre und hat die schlimmsten Vergewaltigungen erlebt. Geruch von Männerschweiß löst bei ihr Panikattacken aus, ihr Körper reagierte jahrelang noch mit massiven schmerzhaften Erinnerungs-Anfällen (Körper-Flashbacks).

"Phainomena" wiederum ist 16 Jahre alt und sexsüchtig. "Sie übernahm, weil ihr Jessy unendlich leid tat, und sie die Qual lieber selbst ertragen wollte, als sie dem Kind zuzumuten."