Bahnhofstraße in Bielefeld am Scheideweg: „Eine einzelne Zielgruppe reicht für den Handel nicht aus“

Bielefeld. Mieter kommen und gehen, und Geschäfte stehen häufig monatelang leer in diesem Teil der Stadt. Die Bahnhofstraße zählt trotz allem bis heute zu den Einkaufsmeilen Nordrhein-Westfalens mit den höchsten Besucherzahlen. Aktuell fällt dort ein Leerstand an prominenter Stelle besonders auf: Der Laden &bdquo;Candy Lover“ in einem Teil der früheren Parfümerie Wolf hat sich in eine Baustelle verwandelt. Anfang des Jahres gab der Inhaber nach einem furiosen Start 2023 auf. Der Rückzug ist Anlass zu einem Gespräch mit Immobilienbesitzer Reinhard Dieter Wolf (86). Jahrelang gehörte der Kaufmann dem Einzelhandelsausschuss der Industrie und Handelskammer (IHK) an, stand außerdem an der Spitze des OWL-Einzelhandelsverbands. Im Gespräch mit der Redaktion äußert er sich zur aktuellen Situation der Bahnhofstraße und ihrer Zukunft. Die Altstadt und immer wieder die Altstadt – wohl alle Bielefelder sind stolz darauf. Die Bahnhofstraße allerdings scheint kaum zu begeistern. Reinhard Dieter Wolf: Ich sehe die Bahnhofstraße mitten in einem Entwicklungsprozess. Die Frage ist: Wohin führt das? Allerdings kann man diese Frage ebenso für die Zukunft der gesamten Stadt stellen. Was ich im Mikrokosmos Bahnhofstraße schon länger beobachte, ist eine verstärkte Konzentration auf Filialisierung und Imbissbetriebe. Wie lässt sich das erklären? Die Generation, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder aufgebaut und sich im Einzelhandel selbstständig gemacht hatte, zog etwa 35 Jahre später die Reißleine. Danach traten vermehrt Erbengemeinschaften und Fonds als Vermieter an, die an langfristigen Verträgen interessiert waren. Allerdings ist das heute so nicht mehr in jedem Fall möglich. Mancher ist inzwischen froh, einen halbwegs solventen Mieter gefunden zu haben. Beeinflusst wird diese Entwicklung gleichzeitig von einer zunehmenden Anonymisierung auf Vermieterebene. An der Bahnhofstraße können Sie Immobilienbesitzer, die hier noch selbst ihr Geschäft führen, an einer Hand abzählen. Und bei den Gewerbetreibenden beobachte ich eine wachsende Bereitschaft, sich an Filialisten anzulehnen – aus Sorge darüber, von der Industrie über den Tisch gezogen zu werden. Lesen Sie auch: Kimchi & Co: Bielefelds größter Supermarkt für Lebensmittel aus Asien eröffnet Inwiefern? Ein Beispiel aus unserer Parfümerie. Wir hatten seit den 1950er-Jahren eine französische Kosmetikmarke mit aufgebaut. Für den Verkauf der Ware bekamen wir eine Preisempfehlung. Der Hersteller verkaufte seine Produkte in seinem Onlineshop allerdings mit 20 Prozent Rabatt. Unsere Marge blieb gleich. Das ist ruinös und meiner Überzeugung nach Betrug am Händler. Lassen Sie es mich das mal so zusammenfassen: Das Verhalten der Industrie mit einer veränderten Preispolitik, der Wandel der Vermieterszene und der Einfluss von Social Media, das alles hat die Situation des Einzelhandels nicht zum Besseren verändert. Das scheint der Beliebtheit der Bahnhofstraße allerdings nicht zu schaden. Von rückläufigen Besucherzahlen ist dort nichts zu sehen. Im Gegenteil. Dazu hole ich mal weiter aus. Zu den Säulen einer Stadt gehören Rathaus, Kirche und der Marktplatz. Die beiden Erstgenannten haben in ihrer Bedeutung deutlich verloren. Die Digitalisierung erspart manchen Gang zum Rathaus, und Wohngebiete sind heute häufig nicht mehr so kirchennah wie früher. Bleibt also noch der Marktplatz mit Handel und Gastronomie als Zentrum für Kommunikation. Für viele Menschen heißt dieser Marktplatz heute Bahnhofstraße. Die Frage ist: Was machen wir mit den Besuchern, die hier entlang gehen? Bieten wir ihnen das, was sie benötigen? Sie sind es doch, die uns ermöglichen, Geschäfte zu machen. Wir müssen froh sein über eine so gut frequentierte Meile. Man kann nur sagen: An der Bahnhofstraße stimmt der Warenmix, ebenso wie im Loom. Dass Gruppen junger Menschen aus anderen Kulturkreisen schon mal als bedrohlich wahrgenommen werden, sehe ich als Problem einzelner Betrachter. Wichtiger ist doch, dass die unterschiedlichen Gruppen, die sich hier bewegen, eine gemeinsame Struktur bekommen. Einzelne Zielgruppen allein reichen nicht mehr aus für einen erfolgreichen Handel, das gilt auch mit Blick auf die Altstadtbesucher. Lesen Sie auch: Großer OrtsCheck in Bielefeld: Kritik an Wohnungsangebot und Verkehrspolitik Die wohl eher nicht in der Bahnhofstraße anzutreffen sind? Die Altstadt spricht eine, ja sagen wir mal, gesetzte Klientel an, die beim Flanieren gern ihre Erwartungen erfüllt sieht. Darunter sind dann auch diejenigen, die im Ausland selbst gern über die Märkte beziehungsweise Basare bummeln und dort auch einkaufen, genauso wie die einheimische Bevölkerung. In Südeuropa und im Orient treffen sich Besucher aus allen gesellschaftlichen Schichten an diesen Plätzen. Ähnlich könnte sich das auch an der Bahnhofstraße entwickeln, die schon heute eine wichtige soziale Funktion erfüllt. Doch was Urlaubern im Ausland gefällt, wird am eigenen Wohnort eher skeptisch betrachtet. Ich kann einen Abstecher zur Bahnhofstraße am Wochenende nur jedem empfehlen. Man sieht dort Menschen, die sich fürs Ausgehen chic gemacht haben, so wie früher in der Heimat. Dort ist der Basar, der Markt, ein beliebter Treffpunkt. Bei uns war es einmal, lange her, der Dorfplatz. Wenn unsere Gesellschaft dies selbst nicht mehr ausfüllen kann oder will, dann sollten wir wenigstens anderen die Chance geben, das auszuleben. Toleranz ist die Leitschnur. Und man sollte den Menschen das Gefühl geben, dass sie hier willkommen sind. Nun scheint die Bahnhofstraße, so wie sie sich darstellt, nicht sehr einladend, sondern an manchen Stellen eher schmuddelig. Ja, schade. Kippen und Kaugummi auf dem Pflaster vermitteln keinen gepflegten Eindruck. Das sollte man ändern. Meine Idee: Könnten Ordnungskräfte, die ohnehin auf der Straße unterwegs sind, die Menschen vielleicht mal freundlich darauf hinweisen, dass sie die Abfalleimer benutzen? Auf der anderen Seite sind schon einige erfreuliche Ansätze sichtbar. Das Cityteam engagiert sich auch hier in unserem Viertel, wie kürzlich mit der Einrichtung des Hüpffelds an der Arndtstraße. Vom Handel zum Wohnen. Die meisten zieht`s inzwischen in Wohngebiete außerhalb der City, in Ortsteile mit eigener Infrastruktur oder hinaus aufs Land. Könnte auch das die Innenstadt auf Dauer schwächen? Ich halte es für unerlässlich, dass Eigentümer lange Leerstände von Anfang an vermeiden. Durch eine Verlagerung der Wohnbevölkerung nach draußen könnte sich ein Prozess entwickeln, der nicht mehr aufzuhalten ist. Keine spielenden Kinder mehr auf der Straße, nach Ladenschluss leere Einkaufsmeilen. Und der Gastronomie fehlen die Gäste. Die City würde veröden. Erfreulicherweise ändert sich das jedes Mal wieder schnell mit dem Wetter. Steigen die Temperaturen, dann sind auch die Terrassen der Cafés und Restaurants wieder gut besetzt, wie wir es aktuell erleben. Zurück zum Leerstand in Ihrer eigenen Immobilie an der Ecke Bahnhofstraße/ Arndtstraße. Was folgt nach &bdquo;Candy Lover“? Der Inhaber bleibt weiterhin als Mieter. Er ist gerade mit Umbauarbeiten beschäftigt, um danach mit einem Geschäftspartner in den Schmuckhandel einzusteigen. 📱 News direkt aufs Smartphone: Hier finden Sie den kostenlosen Whatsapp-Kanal der NW-Bielefeld

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