Ex-Bundespräsident in Brackwede

„Demokratie zeigt Schwächen“: Beeindruckender Auftritt von Joachim Gauck in Bielefeld

Joachim Gauck zeigt sich in der Aula des Gymnasiums Brackwede glänzend aufgelegt. Er erklärt auch, warum er unsere Demokratie als bedroht ansieht, Deutschland eine neue Zuwanderungspolitik braucht und er fordert mehr Unterstützung für die Ukraine.

Joachim Gauck fesselte seine Zuhörer in der Aula des Gymnasiums Brackwede. | © Mike-Dennis Mller / www.mdm.photo

Jürgen Mahncke
25.10.2024 | 25.10.2024, 10:05

Bielefeld. „Erschütterungen“ nennt der Altbundespräsident Joachim Gauck sein Buch, in dem er unsere Demokratie von außen und innen erschüttert sieht. Der russische Überfall auf die Ukraine bedrohe unsere liberale Demokratie, die zugleich auch von innen unter Druck stehe. Wie es dazu kommen konnte, erläuterte Gauck an einem unterhaltsamen, aber nachdenklich machenden Abend in der Aula des Brackweder Gymnasiums.

Die Buchhandlung Klack hatte humorvollen Redner eingeladen. Mucksmäuschenstill, ab und zu mit kräftigen Applauseinlagen, folgten die Besucher in der komplett besetzten Aula.

Und der Mann hatte etwas zu erzählen. 1940 in Rostock geboren, steht er bis 1990 im Dienst der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs. 1989 ist er Mitinitiator des kirchlichen und öffentlichen Widerstands gegen die SED-Diktatur. Gauck wird zum Vorsitzenden des Parlamentarischen Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit gewählt. Am 18. März 2012 wählt die Bundesversammlung Joachim Gauck zum elften Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland.

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Gauck als glühender Vertreter der liberalen Demokratie

Von der Diktatur in die Demokratie, diesen Wandel hat Gauck immer wieder hinterfragt. Als glühender Vertreter der liberalen Demokratie in unserem Land sorgt er sich heute, dass die damit verbundenen Freiheiten in Gefahr geraten.

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„Ich hatte das Gefühl, mich niemals vor einem Krieg in Europa fürchten zu müssen. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine ist Realität. Ich hatte schon vorher eine Erschütterung, als Trump in den USA gewählt wurde.“ Er habe sich nicht vorstellen können, dass „so ein Typ“ von einer demokratischen Nation gewählt wird. Das könne jetzt wieder passieren. „Man weiß nie genau, was die Wähler tun, aber auch nicht, wie die Gewählten handeln. Unsere Demokratie, ein System ungesicherter Gewissheit“, führte Gauck zu Beginn der Veranstaltung aus.

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Joachim Gauck im Brackweder Gymnasium

Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, griff Gauck zur Feder, und gemeinsam mit seiner Co-Autorin Helga Hirsch entstand das Buch „Erschütterungen“, sein Inhalt aktueller als je zuvor.

Gaucks Beziehung zur Demokratie

Dreimal gäbe es eine eigene Beziehung Gaucks zur Demokratie. „Als ich jung war und in der Diktatur der DDR lebte, war die Demokratie das ferne, leuchtende Sehnsuchtsziel für mich. Als ich die Mitte meines Lebens überschritten und bei der friedlichen Revolution mitgewirkt hatte, hatte ich endlich meinen Ankunftsort erreicht, fest gegründet und mit der Sicherheit, dort gut und sicher zu ruhen.“

Am Abend seines Lebens habe sich die Sicht noch einmal verändert. „Wovon ich träumte, ist nicht mehr die ewig fest geführte Ordnung, in der die Gerechten in stabiler Sicherheit leben. Speziell das Gefühl der Sicherheit hat sich reduziert. Die Demokratie zeigt deutlich ihre Schwächen“, analysierte Gauck die derzeitige Lage.

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Inzwischen hätten viele erkannt, dass dringender Handlungsbedarf bestehe. Man müsse die Außenmauern festigen und Risse in den Fundamenten ausbessern. Die Demokratie müsse den neuen Gegebenheiten angepasst und zukunftsfest werden. Dabei müsse man sich allerdings unbequeme Fragen stellen.

Angst bei Teilen der Wählerschaft

„Warum haben wir die Angriffe Russlands nicht kommen sehen, warum haben wir zu lange auf Wandel durch Handel gesetzt? Sind wir überhaupt bereit, die liberale Demokratie mit Entschlossenheit zu verteidigen?“, fragte Gauck. Fehler der Regierung und ungeregelte Probleme lösten bei einem Teil der Wählerschaft Angst aus. „Wenn diese Menschen von den Parteien der Mitte keine angemessene Reaktion auf ihre Ängste erfahren, betätigen sie sich als Wählerinnen und Wähler woanders.“

AfD und die Partei von Sahra Wagenknecht seien Nutznießer. „Ein Teil der Wähler und politischer Akteure im Osten sind nicht mehr erreichbar. Rationale Argumente ziehen nicht mehr. Humanitäre Verpflichtungen und der Zusammenhalt in Europa interessieren die AfD nicht.“

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Es sei ein Gebot der politischen Vernunft, Zuwanderung zu steuern – und, wenn nötig, auch zu begrenzen. „Wenn die traditionellen Parteien der Mitte die durch die Zuwanderung mitgebrachten Probleme nicht deutlich besprechen und aktiv gegensteuern, entsteht ein Gefühl von Kontrollverlust“, führte Gauck aus.

Appetit eines Aggressors wird größer

Was den Ukraine-Krieg anbelangt, hatte er als amtierender Bundespräsident bereits erkannt, dass der Appetit eines Aggressors größer werde, wenn keine Grenzen gesetzt würden. Eine eigene Friedfertigkeit würde nicht besänftigen.

„Wir dürfen Versäumnisse der Vergangenheit nicht als Friedenspolitik ausgeben. Ich halte es für richtig, die zur Verfügung stehenden Mittel auszuschöpfen und so zu helfen, dass die Ukraine in eine Verhandlungsposition auf Augenhöhe kommt. Wir müssen mehr Unterstützung leisten“, sagte Gauck und erntete viel Beifall.