Neues Zuhause gefunden: Bielefelder Obdachloser hat ein "14-Quadratmeter-Heim"

Bielefeld. Wann genau ihm sein Leben entglitten ist? Hans, der lieber bei seinem Spitznamen Handu gerufen wird, kann es nicht so genau sagen. Vielleicht schon mit 14, als er auf dem Dorf in Lippe hauptsächlich mit Älteren Umgang hatte. Haschisch, Marihuana und Alkohol waren cool, gehörten dazu. Aber die Drogen lassen ihn nie mehr wirklich los, bringen ihn auf Jahre hinter Gitter, machen ihn obdachlos. &bdquo;Ich habs vergurkt“, sagt Handu knapp und zuckt mit den breiten Schultern. Heute lebt der 65-Jährige auf 14 Quadratmetern am Rande der Stadt, in einem Container, froh um ein seltenes Angebot für Nichtsesshafte in Bielefeld. Erst kürzlich ist er dem Tod von der Schippe gesprungen – ausgerechnet im Gefängnis. 70 Tage Ersatzhaft, weil er eine Geldstrafe von 1.060 Euro nicht bezahlen konnte. Strafe wofür? &bdquo;Weil ich meine Klappe nicht halten konnte“, sagt Handu. Widerstand gegen Polizeibeamte, Beleidigung. Ins Detail geht er nicht. 1978 musste er zum ersten Mal in den Bau, seine längste Einzelstrafe waren vier Jahre für Drogenbesitz und -handel. Jetzt, schwört Handu, habe er mit Drogen nichts mehr am Hut – abgesehen von Alkohol und Zigaretten. Herzstillstand kurz nach Haftantritt Im April sei er in der Justizvollzugsanstalt Senne umgekippt, Herzstillstand. Er wurde reanimiert, ist erst Tage später im Gefängniskrankenhaus in Fröndenberg wieder wach geworden. Handu blickt über seine Schulter. &bdquo;Wäre ich hier im Container gewesen, wäre ich jetzt six feet under.“ Bild: hans-vahldiek-13-von-14Er sitzt unter stattlichen Bäumen auf dem Schillingshof der von Bodelschwinghschen Stiftungen. Sein Container ist der erste in einer Reihe von sechs, die am Rand der Wiese stehen und zu Bethel Regional gehören. Er hat Bett und Tisch mit zwei Stühlen, eine kleine Pantry-Küche mit Zwei-Platten-Kocher, ein Duschbad mit Toilette. Nicht weit entfernt rauscht der Verkehr auf der A33. Handu ist ganz in Schwarz gekleidet, hat ein passendes Samt-Käppi auf dem gelockten fast weißen Haaren. Er habe 30 Caps zur Auswahl, sagt er fröhlich, während die Augen noch müde aussehen. Einen Grund, früh aufzustehen, gibt es ja nicht. Ja, er sei froh, noch am Leben zu sein. Obwohl . . . &bdquo;Es gibt schon Tage, da fragt man sich, ob das alles noch Sinn hat?“ Aber da sind ja noch die drei Enkel, die er – obwohl eineinhalb, vier und zehn Jahre alt – , noch nicht alle kennt, aber gerne kennenlernen würde. Zu Töchtern und Enkeln kaum Kontakt Das sagt er nicht so direkt. Seine drei Töchter und die Enkel hätten ja ihr eigenes Leben. &bdquo;Da mische ich mich nicht ein. Wer will schon jemanden, der einem ständig auf den Puschen steht?“ Aber hinter seinem Container hat er ein kleines Kunststoffbassin eingebuddelt, mit Wasser gefüllt. Darin schwimmen eine einst gelbe Plastikente, ein ebenfalls verschossener Flamingo, und es gibt ein kleines Krokodil. Ein kleines rot-gelbes Laufrad liegt herum. &bdquo;Falls die Enkel doch mal kommen“, sagt er leise. Bild: hans-vahldiek-11-von-14Handu war im Dorf integriert. Fußballverein, Schützenverein, Nachbarschaft und Sportfeste. Er beginnt eine Lehre zum Bürokaufmann in einer Kfz-Werkstatt. Aber das seien ihm letztlich zu viele Zahlen gewesen. Daher habe er eine Umschulung zum Tischler gemacht. Und danach hart gearbeitet, aber auch viel Party gemacht. Der Alkohol fordert seinen Tribut. Zögerlich räumt er die Abhängigkeit ein. &bdquo;Nach zwei Schluck gings halt besser.“ Er sei ein Pegeltrinker. Ein Päckchen Bonekamp und zwei Bier dürfen derzeit sein, um den Motor in Schwung zu bringen. Der stottert nicht nur wegen der Herzprobleme, sondern auch wegen Long-Covid-Symptomen. Handu fühlt sich oft schlapp, wie er sagt. Lange Strecken mit dem Rad so wie früher, sind nicht mehr drin. Eineinhalb Jahre am Bielefelder Obersee gezeltet Irgendwann auf dem Weg, der ihn auf den Schillingshof geführt hat, hat Handu seine beiden Ehen in den Sand gesetzt. Kontakt zu seinen drei Töchtern im Alter von 35 bis 42 Jahren habe er sporadisch. &bdquo;Wir telefonieren miteinander“, betont der 65-Jährige mehrfach. Sein Vater ist 1986 verstorben. Seine Mutter lebt noch im Lippischen, um die 90-Jährige kümmert sich die Schwester. &bdquo;Und die kommt auch an ihre Grenzen, wenn es darum geht, sich auch noch um den Jungen zu kümmern.“ Der &bdquo;Junge“, der letztlich durch Suff und Drogen die Wohnung verliert. &bdquo;Ich hab mich um nix mehr gekümmert.“ Er schläft lange in einer Gartenlaube eines Bekannten. Und weil ihn wieder mal die Polizei per Haftbefehl sucht, taucht Handu unter. &bdquo;Eineinhalb Jahre habe ich am Obersee gezeltet“, erzählt er. Seine Klamotten habe er so gut im Wald getarnt, niemand habe ihn dort gefunden, sagt er stolz. Doch so richtig gutgegangen ist es ihm wohl nicht, auch wenn er es wie ein spaßiges Abenteuer klingen lassen will. Eine Bethel-Streetworkerin habe ihn schließlich angesprochen. &bdquo;Ich bring Sie mal wohin, wo es ihnen gefällt“, habe sie versprochen. Und so ist Handu vor rund vier Jahren einer der ersten in den Containern – und seitdem geblieben. &bdquo;Das ist hier zwar am Arsch der Welt, aber das stört mich nicht.“ Auch, wenn ihn von den Kumpels hier draußen kaum einer besucht. Zu weit vom Schuss. Seine Nachbarn kennt Handu natürlich, vor allem den Dietmar. Aber viel Kontakt haben sie nach seinen Worten nicht. &bdquo;Es ist gut zu wissen, dass hier keiner einem etwas tut.“ Ohne Meldeadresse keine Sozialleistungen Zu den Vorteilen seiner &bdquo;Wohnnische“ gehört zweifellos neben dem festen Dach über dem Kopf auch die Meldeadresse, die für viele Dinge unabdingbar ist. Beispielsweise, um Sozialleistungen auf ein eigenes Bankkonto zu erhalten. Handu bekommt Bürgergeld (ehemals Hartz IV), die Unterbringung im Container zahlt das Sozialamt an seinen &bdquo;Vermieter“ Bethel regional. Manuel Pietsch ist Bereichsleiter von &bdquo;Wohnen und Beraten Süd“. Der Schillingshof bietet stationäre Wohnungslosenhilfe, unterstütztes Wohnen und Eingliederungshilfen für psychisch Erkrankte und Suchterkrankte. Außerdem ist er Standort einer Werkstatt von Pro Werk. Die Annahme von Hilfen durch die Nichtsesshaften ist jedoch keine Voraussetzung, um in den Genuss eines Containers zu kommen, betont der Sozialarbeiter. Normalerweise waren die Container, die für Obdachlose gedacht sind, die die in Bielefeld vielfältig vorhandenen Hilfsangebote nicht annehmen wollen und durchs Raster fallen, nicht als Dauerwohnungen gedacht. Erst die Existenzsicherung, dann innerhalb eines Jahres eine neue Perspektive irgendwo in der Stadt. &bdquo;Aber die Realität sieht anders aus“, sagt Pietsch. Obdachlose haben auf engem Wohnungsmarkt kaum eine Chance Die Bewohner, die in der Regel viel erlebt haben, schafften es nicht, in anderen Wohnungen unterzukommen. Erst recht nicht auf einem so engen Wohnungsmarkt. &bdquo;Und wir wollen ja nicht, dass die Menschen wieder obdachlos werden. Daher haben wir das Konzept geändert.“ Wer einzieht, kann bleiben. Seit 2019 habe es nur wenige Wechsel gegeben. &bdquo;Das hat schon Qualität“, sagt der Sozialarbeiter. &bdquo;Aber das echte Leben ist das nicht.“ Darum ist nicht an mehr Container gedacht, obwohl laut aktuellem Lebenslagenbericht 50 bis 60 Menschen in Bielefeld als obdachlos gelten. Pietsch und seine neun Kolleginnen und Kollegen haben ein Auge auf ihre &bdquo;Mieter“, sind immer ansprechbar. In Fällen, wie jetzt bei Hans, kümmern sie sich auch aktiv – mit gebotenem Respekt. Weil Hans krank sei, keinen Haus- und Facharzt habe, sei er nun dabei, seine medizinische Versorgung einzustielen. &bdquo;Allein schafft er das nicht.“ Auch beim Einkaufen bekommt er Unterstützung. Und Pietsch ist mit seinem &bdquo;Mieter“ im Gespräch über die Zustände rund um den Container. &bdquo;Da war es schon mal aufgeräumter“, sagt Manuel Pietsch trocken. &bdquo;Reine Nüchternheit, das wäre ein Ziel“ Schrottreife Fahrräder, Grablichter, Laternen, verschossene Kunstblumen, Engelfiguren, Plastikspielzeug, ein Globus auf einem Stab – ein einziges Sammelsurium. Das meiste davon aus den Abfallkörben des Sennefriedhofes, erzählt der 65-Jährige. &bdquo;Nichts davon ist geklaut!“ Begonnen habe seine Sammelleidenschaft mit dem Ende seiner Obdachlosigkeit. Der Container ist nach Jahren wieder eine feste Heimat, die man aufhübschen kann. Doch er sieht ein, dass einiges davon weg muss. Angefangen hat er schon mit dem Aufräumen. Eine kleine Box ist halb gefüllt, aber wie so oft fehlt der Antrieb. Hat er noch Pläne für die Zukunft? &bdquo;Endlich mal erwachsen werden“, sagt Handu und grinst jungenhaft. Ernster fügt er an: &bdquo;Reine Nüchternheit, das wäre ein Ziel“ – wohl selbst zweifelnd, ob er das jemals schafft. Eine Sicherheit hat er: Sein &bdquo;eigenes kleines Reich“, 14 Quadratmeter am Rande der Stadt, bleiben ihm als Heimat. &bdquo;Ich möchte auch nicht mehr unter freiem Himmel leben müssen“, sagt Handu. &bdquo;Bei allem Scheiß in meinem Leben ist das doch eine glückliche Fügung.“Nachtrag: Nur wenige Wochen nach dem Gespräch ist Handu kurz vor seinem 66.Geburtstag verstorben: Abschied von Handu.

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