Berührende Geschichte: Vom Flüchtling zum beliebtesten Pfleger im Bielefelder Altenheim

Bielefeld. Was Ikamullah Rahini erzählt, muss man erst einmal verdauen. Auch Anita Pötzing (82), Bewohnerin der Senioreneinrichtung in Vilsendorf, in der der 22-Jährige als Pflegefachmann arbeitet, ist tief berührt, nimmt schweigend seine Hand. Eine Kindheit im Krieg, mit 14 Vollwaise, dann eine abenteuerliche Flucht ins Ungewisse - und schließlich ein Happy End in Bielefeld. Eine Geschichte von großer Tragik, unglaublicher Kraft - und letztendlich auch großem Glück. Iki, wie ihn die Bewohner und Mitarbeiter der Demenz-WG des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) alle nur liebevoll nennen, ist in einem kleinen Dorf im Süden von Afghanistan aufgewachsen. Eine Kindheit im Krieg - nicht unbeschwert, "aber mit tollen Eltern", sagt er. Als er 13 Jahre alt ist, stirbt seine Mutter an Krebs. Ein knappes Jahr später wird sein Vater aufgrund seines politischen Engagements umgebracht. Geschwister hat Iki keine. Tante und Onkel nehmen ihn auf. Wenn's eine Chance gibt, hauen wird ab: Seine älteren Freunde hätten immer wieder darüber gesprochen, aus Afghanistan zu fliehen. Um die Schleuser zu finanzieren, überließen sie ihnen Ikis Elternhaus. "Mit der Option, es innerhalb der nächsten zehn Jahre zurückzubekommen, wenn wir das Geld zurückzahlen können", berichtet der 22-Jährige, der fließend Deutsch spricht. Tatsächlich hätten sie ihr Wort gehalten, er habe sein Elternhaus vor einiger Zeit zurückkaufen können. Dort lebten heute Tante und Onkel. Nicht alle haben den Fluchtversuch überlebt Bei der Flucht sei dann plötzlich alles ganz schnell gegangen. Ein paar Hosen, Schmuck der Mutter, zwei besondere Bücher: mehr habe er nicht eingepackt. Ein Handy habe er damals, 2015, noch nicht gehabt. Und dann seine feinen Schuhe, die er immer zu besonderen Anlässen trug, angezogen. Die Freunde hätten ihn ausgelacht und schnell noch Ersatz besorgt. Es gehe schließlich nicht in den Urlaub. 41 Tage seien sie insgesamt unterwegs gewesen. Mit Einbruch der Dunkelheit ging's los: Mit einem Pkw brachten die Schleuser ihn und seine sechs Freunde nach Kabul, dann weiter Richtung Pakistan. "Von dort ging's zu Fuß weiter Richtung Iran und Türkei", berichtet Iki. Von der Türkei aus hätten sie die Flucht übers Mittelmeer versucht, seien dabei fast ertrunken, weil die Boote nicht in Ordnung waren. Nicht alle hätte das überlebt. "Es war genauso schrecklich, wie man es hier manchmal im Fernsehen oder in der Zeitung auf Bildern sieht", sagt Iki. Die Griechische Polizei habe ihn und seine Freunde dann aufgegriffen. Essen, heiße Getränke und Wärmefolien-Decken: Am Strand seien sie von Mitarbeitern der mit dem DRK kooperierenden Hilfsorganisation Roter Halbmond versorgt worden. Das sei für ihn ein Schlüsselerlebnis gewesen. Irgendwann auch bei so einer Organisation zu arbeiten und anderen zu helfen, habe er sich zum Ziel gesetzt. Über Bulgarien, Serbien, Kroatien und Österreich ging die Flucht weiter. Irgendwann seien sie in Bayern in einem Flüchtlingsheim angekommen, hätten dort aber kein gutes Gefühl gehabt, seien "durch den Zaun nachts wieder abgehauen" und per Zug weitergereist. "Ein Ziel hatten wir nicht", sagt Iki. Mehrfach seien sie an Bahnhöfen ausgestiegen. Gutes Gefühl bei der Ankunft in Bielefeld In Bielefeld habe es dann vom Gefühl am Bahnhof "irgendwie gepasst". Hier trennten sich dann aber die Wege der Freunde. Weil Iki minderjährig war, kam er ins Clearinghaus. Und konnte dann auch in die Schule gehen, in die Internationale Klasse des Ceciliengymnasium. Als er in eine andere Einrichtung in Eschweiler verlegt werden sollte und ganz unglücklich war, nahmen ihn die Eltern einer Lehrerin in ihre Familie auf - zu seinem großen Glück. Er wechselte auf das Carl-Severing-Berufskolleg, machte den Abschluss der mittleren Reife. Dann sei er einfach ins DRK-Büro gegenüber des Nachhilfeinstituts, bei dem er für Mathe gelernt hatte, marschiert und habe nach einem Ausbildungsplatz gefragt. Und ihn bekommen. Auch zum Glück von Anita Pötzing, den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern der Demenz-WG des DRK in Vilsendorf, ihren Familien und dem Mitarbeiterteam. Denn Pflegepersonal ist rar. Da sei es ganz viel wert, einen so engagierten, empathischen Menschen wie Iki mit an Bord zu haben. "Nicht aufgeben", das sei immer sein Motto gewesen. Das habe er sich auch in ganz dunklen Tagen immer wieder gesagt. Auch ihm mache das Erlebte zu schaffen und er habe professionelle Unterstützung angenommen, um das Trauma zu verarbeiten. Die Sprache zu lernen, das rate er anderen Flüchtlingen auf jeden Fall. Von den Senioren, die er betreut, lerne er da immer noch etwas dazu, wie etwa alte Sprichwörter. Noch heute wohnt der 22-Jährige mit im Haus der Pflegeeltern in Jöllenbeck. Seit kurzem nicht mehr allein. Er hat seine Jugendfreundin aus Afghanistan geheiratet. Auch sie lebt jetzt in Bielefeld. Seine Freunde, mit denen Iki geflohen ist, wohnen in ganz unterschiedlichen Städten, in Koblenz, Solingen, Köln und Berlin. "Aber wir haben immer noch ganz regelmäßig Kontakt und besuchen uns fast jedes Wochenende", berichtet er. Da sei das Deutschlandticket der Bahn super. Immer, wenn er dann nach Bielefeld zurückkommt, habe er das Gefühl, wieder zuhause zu sein. Seine Eltern und seine Heimat habe er immer im Herzen. Seine Mutter und sein Vater hätten sich in Afghanistan auch immer für andere eingesetzt und viel Gutes getan. "Davon bekomme ich hier jetzt viel zurück", sagt Iki. Die NW wird in den kommenden Wochen in loser Folge weiter über Hintergründe von Migration und Integration berichten. Dabei soll es um die historische Entwicklung, die Bereiche Bildung und Erziehung sowie um die Arbeitswelt gehen.

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