140 Anzeigen: Bielefelder Reisebüro-Inhaber prellt seine Kunden

Bielefeld. Gewerbsmäßiger Betrug. Das sei das Delikt, dessen sich der Geschäftsführer des Bielefelder Reisebüros Erciyes schuldig gemacht haben dürfte, und für das er sich demnächst vor Gericht verantworten müsse, sagt Ali Senol nach vorläufiger Bewertung der Rechtslage. Der bekannte Bielefelder Strafverteidiger steht in diesem Fall jedoch nicht an der Seite eines Verdächtigen, sondern vertritt seit vergangenem Freitag die Interessen der Geschädigten. Und davon gibt es viele – über OWL verteilt. Die Polizei bestätigt am Montag den Eingang von rund 140 Anzeigen wegen Betruges. Die Dunkelziffer sei wahrscheinlich ähnlich groß, sagt der Jurist. Um eben Licht in die Angelegenheit zu bringen, trafen sich am vergangenen Freitag die ersten zehn um ihre Flugtickets gebrachten potenziellen Kläger in seiner Kanzlei und besprachen die rechtlichen Möglichkeiten, um von dem verlorenen Geld eines Tages vielleicht doch noch etwas wiederzusehen. Bei einem angenommenen durchschnittlichen finanziellen Schaden von rund 1.000 Euro pro Familie, bewegt sich der Gesamtverlust für die Geschädigten im unteren sechsstelligen Bereich. Sie alle hatten Flugtickets für den Sommer in dem Reisebüro an der Heeper Straße gekauft und wollten in den Urlaub fliegen in die Türkei, in die Ferien, zur Familie und Verwandten. Genauso wie in den ganzen vergangenen Jahren. Einige der Kunden berichteten von einer über zwanzigjährigen Verbundenheit zu dem Reisebüro, das noch auf die Eltern zurückging. Damals gab es immer Tickets, doch die fehlten diesmal: Der Zettel mit den ausgedruckten Reservierungsdaten erwies sich als Luftbuchung. Beim Online-Einchecken daheim oder direkt am Flughafen erlitten die Reisenden einen Schock, als sie erfuhren, dass auf ihre Namen gar keine Tickets gebucht waren. Nur kurz einmal reserviert, für den Kunden-Ausdruck, und in fast allen Fällen gleich wieder storniert. Ex-Reisebüro-Chef sprach von Kompensation Spätestens am letzten Schultag implodierte dann das System, als die ersten Urlauber von ihrem Unglück erfuhren und empört den Weg zum Reisebüro antraten. Dort habe man zwar die Familie des Reisebüro-Inhabers angetroffen, aber nicht den mutmaßlichen Betrüger selbst. Das berichteten einige der Geschädigten am Tag darauf, die von dem kleinen Tumult vor dem Laden in den Sozialen Medien erfahren hatten. Weil es an dem 21. Juni eng wurde auf dem Bürgersteig der Heeper Straße, fuhren auch Streifenwagen vor und prüften die Lage. Die aufgebrachten Menschen berichteten vom mutmaßlichen Betrug im großen Stil, und die Beamten rieten gleich zum Gang in die benachbarte Polizeiwache am Kesselbrink zum Erstatten der Anzeigen – der Empfehlung folgte das Gros der Anwesenden. Die Debatte vor dem Geschäft sei sehr hitzig gewesen, schilderten Betroffene, sie sei aber zu keiner Zeit eskaliert. Wohl auch, weil der Ex-Chef des Reisebüros, der Vater des Flüchtigen, von Kompensation gesprochen habe, der Absicht, den Schaden wiedergutzumachen. Der Beschuldigte befindet sich auf freiem Fuß. &bdquo;Wäre das mein Mandant, würde ich ihm raten, mit der Schadenswiedergutmachung so schnell wie möglich zu beginnen. So ein Verhalten wirkt sich immer positiv auf das Strafmaß aus“, sagt Senol. Mittlerweile habe sich der mutmaßliche Betrüger mit seinem Anwalt bei der Behörde gemeldet, wie Polizeisprecher Michael Kötter bestätigte. &bdquo;Weder er noch ich werden zum jetzigen Zeitpunkt eine Erklärung abgeben“, teilte sein Anwalt Friedbert Teutenberg mit. Gestützt wird der Verdacht des gewerbsmäßigen Betrugs auch von Aussagen einiger Betroffenen, die von einer gezielten Flugticket-Aktion im Februar berichtet hatten: Demnach habe das Reisebüro den Kunden die Tickets zum Pauschalpreis angeboten. 30 Jahre gültige Vollstreckungstitel Die Kunden kauften und bezahlten in den meisten Fällen mit Bargeld. Aus Tradition, aus alter Verbundenheit, weil das die Eltern schon so gemacht hatten. Dafür fehlt den meisten jetzt die obligatorische Quittung zum Nachweis der Zahlung. Das sei kein Problem, um vor Gericht die Ansprüche geltend zu machen, sagt Senol. Es gebe quittierte Reservierungsbestätigungen, es gebe Zeugenaussagen, und es gebe bisher an die 140 Anzeigen – das denken sich die Menschen ja nicht aus, um jemandem schaden zu wollen. Mit seinen Mandanten geht Senol jetzt erst einmal den zivilrechtlichen Weg zur Zwangsvollstreckung: Der persönlich haftende Unternehmer erhält Mahnungen über die ausstehenden Beträge. Werde der jeweils angemahnte Betrag in der gestellten Frist nicht beglichen, werde vor Gericht geklagt, um einen Schuldtitel zu erwirken. Dieser Titel habe dann 30 Jahre lang Gültigkeit und könnte dann jederzeit vollstreckt werden. Diesen Freitag will sich eine zweite Gruppe von Geschädigten im Büro des Anwalts treffen und denselben Weg gehen. Für die türkischsprachige Öffentlichkeit begleitet der freie Journalist Cengiz Kalinci die Entwicklungen rund um den Reisebüro-Erciyes-Skandal. Er veröffentlicht seine Recherchen in seiner Online-Zeitung &bdquo;Gurbet Postasi“ auf Facebook.

Meistgelesen