Bielefeld

Das "Gewissen der Nation" zu Gast in Bielefeld

Ferdinand von Schirach liest aus seinem neuen, sehr persönlichen Buch „Nachmittage“: große Liebe und immer wieder die Frage nach Gerechtigkeit.

Ferdinand von Schirach zu Gast im Stadttheater. | © Mike-Dennis Mller

16.10.2022 | 16.10.2022, 21:25

Bielefeld. Ferdinand von Schirach ist nach 2019 wieder in der Stadt, das Theater ist seit langem ausverkauft. Seine Persönlichkeit fasziniert: Er war 20 Jahre Strafverteidiger, dann Schriftsteller von Bestsellern, in denen er oft vertrackte Gerichtsfälle literarisch verarbeitet hat. Den Theaterstücken „Terror“ (2016/17 am Theater Bielefeld) und „Gott“ (2020) liegt die kritische Auseinandersetzung mit der Würde des Menschen zugrunde. Die Fernsehverfilmungen dazu haben viele zur Beschäftigung mit dieser Frage, auch mit Fragen von Recht, Gerechtigkeit und unserem Rechtssystem angeregt.

Nun ist er mit „Nachmittage“, seinem neuen, sehr persönlichen Buch auf Tour. Über 90 Minuten lässt von Schirach das Publikum teilhaben an seinen Gedanken, verbindet meisterhaft über lange Phasen immer wieder Themen miteinander, gibt Leseempfehlungen, parliert im Plauderton über Lars Eidingers Bühnenpräsenz, kommuniziert mit dem Publikum. Hier kann man sich fragen: Was ist authentisch oder wird man hier Zeuge einer stellenweise seltsam skurrilen Selbstinszenierung, die von Schirach eigentlich nicht nötig hat?

Zunächst liest er aus seinem Buch, es ist eine Sammlung von unterschiedlichen, meist sehr kurzen Texten, die von Melancholie geprägt sind. Es geht um Lesereisen, Begegnungen und zufällige Wiederbegegnungen in Hamburg, Paris, New York. In wieweit von Schirach Autobiografisches verarbeitet, bleibt letztlich offen – zumeist ist die erzählende Person Beobachter. Immer wieder geht es um eine große, offenkundig verlorene Liebe.

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Wohl modulierte Worte und tiefe Philosophie

Im Gegensatz zu vielen anderen vorlesenden Autoren weiß von Schirach auch mit gesprochener Sprache umzugehen, er formt jedes Wort sorgfältig, sein Lesen zieht den Hörer in den Bann. Es werden oft kleine Alltäglichkeiten beschrieben, die verpasste Gelegenheit und das bewusste Wahrnehmen von Vergehen und Zeit sind unterschwellige Themen, die Allgemeingültigkeit haben und bei denen man sich wiederfinden kann. Bemerkenswert ist die Episode, wo es um die abstrusen Auswirkungen des professionellen Musikbetriebs geht: Eine befreundete Pianistin erzählt von einer dekadenten Veranstaltung, bei der Sinn und Wesen von Musik ad absurdum geführt werden.

Anwalt der Gerechtigkeit: Ferdinand von Schirach. - © Mike-Dennis Müller
Anwalt der Gerechtigkeit: Ferdinand von Schirach. | © Mike-Dennis Müller

Im zweiten Teil spricht von Schirach über die Entwicklung des in allen Kulturen verankerten Begriffs der Gerechtigkeit. Da merkt man, was ihn umtreibt. Besonders weist er auf die von Kant beeinflusste „Theorie der Gerechtigkeit“ (1971) des amerikanischen Philosophen John Rawls hin. Darin geht es um eine für alle verbindliche Grundregel, die darauf basiert, dass alle im „Schleier des Nichtwissens“ ihre künftige Stellung in der Gesellschaft nicht kennen. Das hat zur Folge, dass eine Ungleichbehandlung nur zugelassen wird, wenn auch das schwächste Mitglied einen Vorteil daraus zieht.

"Das Gewissen der Nation"

Es ist höchst beeindruckend, wie präzise, verständlich und eindringlich von Schirach formuliert. Hier zeigt sich, dass ihn viele für eine Art „Gewissen der Nation“ halten. Er benennt die unbedingte Notwendigkeit, dass wir uns als Einzelne und als Gesellschaft mit dem Thema beschäftigen müssen, da die heutigen großen Probleme (Klimawandel, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Zusammenhalt in der Gesellschaft) nur gemeinsam zu lösen sind.

An dieser Stelle entlässt von Schirach das Publikum. Da hätte man sich von einem so gebildeten und reflektierten Denker noch konkretere Gedanken gewünscht. Am Ende des Abends steht die Erkenntnis, dass jeder Moment bewusst gelebt werden sollte – und dass wir als Menschen ohne den anderen Menschen nicht existieren können. Ein anregender, unterhaltsamer Leseabend mit einer brillanten, facettenreichen Persönlichkeit.