Professor zu Attacken auf Vorlesungen: "Verletzung der Wissenschaftsfreiheit"

Herr Carrier, Wissenschaft ist uns ein wichtiger Begleiter und mitunter Problemlöser des Alltags. Doch wie frei ist sie angesichts von Finanzierungsdruck, einengenden Ideologien und Zeitgeist-Prägungen? Martin Carrier: Das alles wirkt natürlich auch auf die Wissenschaft. Bei solchen Fragen denken wir an Galilei oder andere Wissenschaftler aus der Wissenschaftsgeschichte, die sich mit ihren Erkenntnissen gegen übermächtige und bestimmende Institutionen wie die katholische Kirche behaupten mussten. Diese Form der Unfreiheit haben wir nicht. Bei uns entscheiden Wissenschaftler selbst, welche Theorien und Hypothesen sie akzeptieren. Und sie sind frei in ihrer Wahl der The-men. Das war nicht immer selbstverständlich. Es gibt auch heute Anzeichen von Einengungen, zum Beispiel monetäre. Ja klar, aber den Anspruch, dass jede beliebige Idee des Forschers finanziert werden sollte, halte ich schon für etwas übertrieben. Wenn dem nicht so ist, ist das nicht gleich eine Beeinträchtigung der Wissenschaftsfreiheit. Wichtig ist vielmehr, dass stets eine Breite des Forschungsspektrums garantiert ist. Was meinen Sie damit? Am Beispiel der pharmazeutischen Forschung lässt sich das gut darstellen. Wenn diese sich selbst, also dem Markt, überlassen würde, stellten alle die gleiche Frage. Welche patentierbaren Medikamente können wir entwickeln? So entsteht ein Tunnelblick. Alternative Untersuchungen, die sich etwa mit Sport und Ernährung als Gesundheitsfaktor befassen, würden vernachlässigt werden. Es ist die politische Verantwortung, dafür zu sorgen, dass es auch dafür Fördermöglichkeiten gibt. »Themen lösen Empörung aus, nur weil sie behandelt werden« Es geht um verschiedene Perspektiven auf Themen. Allerdings zeigen Skandale der jüngsten Geschichte, dass Wissenschaftler stigmatisiert werden, wenn sie die &bdquo;falschen" Fragen stellen oder Ergebnisse veröffentlichen. Das passiert leider und wird unter dem Stichwort &bdquo;Cancel Culture" diskutiert. Sie sprechen Ereignisse wie die Attacken auf Vorlesungen des Politikwissenschaftlers Herfried Münkler oder anderer Wissenschaftler an (der Professor der Humboldt-Universität Berlin wurde zeitweise massiv denunziert, weil anonyme Aktivisten seine Forschungsergebnisse nicht ertragen konnten, Anmerk. d. Red.). Das generelle Problem dahinter scheint mir, dass bestimmte Themen Empörung allein deshalb auslösen, weil sie behandelt werden. Es gibt Menschen, die sich nicht aus ihrer Selbstzufriedenheit aufschrecken lassen wollen. Das ist eine schreckliche Verletzung der Wissenschaftsfreiheit, die vor allem auch zu Lasten derjenigen geht, die diesen Dialog verweigern. Man lässt sich nicht mehr auf Argumente ein und nimmt sich so die Chance zu wachsen. Bei solchen Skandalen wirkt die Wissenschaft unfrei. Dabei wissen wir Menschen aus Erfahrung, dass wir an der Auseinandersetzung mit unangenehmen Wahrheiten oft gewachsen sind. Siegmund Freud sprach von den drei großen Kränkungen des Menschen. von Kopernikus, der die Erde, und damit den Menschen, aus dem Zentrum des Kosmos herausgerückt hat; von Darwin, der die Entwicklung des Menschengeschlechts aus der Hand Gottes genommen hat; und von Freud selbst, der die Herrschaft der Vernunft im menschlichen Geist in Frage gestellt hat. Solche Konfrontationen mit zunächst unangenehmen Wahrheiten haben uns wachsen lassen. Wie würden Sie das Wachstum daran beschreiben? Bequeme Selbsttäuschungen der Menschen haben sich aufgelöst, wir haben sozusagen selbstzu-friedene Kindheitsüberzeugungen abgelegt und sind erwachsener geworden. Dieser Weg war also völlig richtig. Wer unliebsame Fragen und Forschungsergebnisse verhindern und Wissenschaftler mundtot machen will, sollte sich dessen bewusst werden. Die NW hat vor wenigen Wochen einen Juristen zu einer Bürgerrechtseinschränkung wegen Corona befragt. Der Professor vertritt allgemein eine kritische Haltung gegenüber dem Umgang mit Corona und den Einschränkungen. Das hat innerhalb der Uni offensichtlich für Bestrebungen innerhalb von Fakultäten gesorgt, den Rechtsprofessor möglichst zu ächten. Ist das nicht auch kritisch zu bewerten? Ja, das wäre ein Parallelfall innerhalb des wissenschaftlichen Betriebs, also zu versuchen, Leute, die unbotmäßige Meinungen vertreten, zu isolieren. Das passiert. Ohne die Fälle inhaltlich vergleichen zu wollen, der Kristallforscher Dan Shechtman hatte in den 1980er Jahren absurd klingende Ideen zu Kristallstrukturen entwickelt, und wurde deswegen zunächst aus dem Labor geworfen. 2011 erhielt er den Nobelpreis. Könnten Sie Grenzen der Freiheit der Wissenschaft anhand dieser Beispiele ziehen? Man muss trennen zwischen Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit. Wissenschaftsfreiheit ist an besondere Standards gebunden. Wenn ich sie in Anspruch nehme, muss ich vernünftig argumentieren und mich unter anderem auf Daten beziehen. Unter dem Schutz der Meinungsfreiheit kann ich auch ganz ungestützte Ansichten vertreten. Wer in der Uni auftritt, kann nicht einfach die all-gemeine Meinungsfreiheit für sich geltend machen, er muss sich an diese Standards der Wissenschaft halten. Die bringen Anforderungen mit sich. Setzt das nicht ein hohes Maß an Objektivität voraus, die es kaum geben kann. Beobachter, Beobachtung und Beobachtetes beeinflussen sich doch immer gegenseitig. Das ist so, und deshalb ist eine breite Auseinandersetzung innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft ein zentrales Element der Sicherung von Objektivität. Denn die eigenen blinden Flecken sieht man meist nicht. Das erkennen wir zum Beispiel an der Rassenforschung des 19. Jahrhunderts, als die gesellschaftliche Sichtweise und die Vorurteile der Forscher den wenig aussage-kräftigen Daten übergestülpt wurden. Würden Sie der These zustimmen, dass Wissenschaft heute bei vielen den Platz von Religion – mit ähnlichem Absolutheitsanspruch – einnimmt? Nein. Im Gegenteil denke ich, dass die frühere Wissenschaftsgläubigkeit der Öffentlichkeit in den vergangenen vielleicht 40 Jahren einer Wissenschaftsskepsis gewichen ist; nicht so sehr, wenn es um theoretische Erkenntnisse über das Universum geht, sondern eher bei konkreten Lebensthemen wie Gesundheit, Ernährung, Klima und Umwelt. Das betrifft uns direkt. Viele Menschen sind da sehr misstrauisch der Wissenschaft gegenüber, auch weil sie Eingriffe in ihr Leben befürchten. Sie unterstellen der Wissenschaft dann schnell eine Politisierung oder Kommerzialisierung. Ganz unrecht haben sie aber leider oft nicht. Ja, es gibt unbestritten politische und ökonomische Einflüsse. Die Wissenschaft ist nicht in einem Idealzustand. Das sehen wir wieder am Beispiel der pharmazeutischen Forschung, wo wir man-chen angeblichen wissenschaftlichen Ergebnissen nicht trauen können. »Das Forschungsziel auf Biegen und Brechen erreichen« Die Abhängigkeit von so genannten Drittmitteln macht anfällig für gefällige Forschungsresultate.Wissenschaft an den Hochschulen operiert heute unter scharfem Konkurrenzdruck und knappen Zeithorizonten. Das führt unter Umständen dazu, dass die Bestätigung spektakulärer Hypothesen in den Vordergrund tritt und dass entsprechend die kritische Prüfung zurücksteht. Dadurch greift manchmal eine Tendenz zur Oberflächlichkeit um sich und das Bestreben, auf Biegen und Brechen das angestrebte Forschungsziel zu erreichen. Ich habe mal für einen Artikel versucht herauszufinden, wie Glyphosat bewertet wird. Forscher im Auftrag des Herstellers fanden heraus, dass es weitgehend harmlos ist, Forscher im Auftrag von Umweltorganisationen bewerteten es als umweltschädlich. Das ist die unglückliche &bdquo;Rent-an-Expert-Idee", der zufolge sich für jede These ein Wissenschaftler finden lässt, der sie verteidigt. Aber das ist ein vorschnelles Urteil. Die Wissenschaft ist sich oftmals über längere Zeit nicht sicher, was letztlich richtig ist. Das ist normal, und die Kontroverse trägt dann zur Wahrheitsfindung bei. Meist kristallisiert sich erst nach Jahren durch viele Betrachtungen und Untersuchungen ein Konsens heraus, der durch Diskussion und Auseinandersetzung gefunden wird. Bei praktischen Fragen kann oder will die Öffentlichkeit aber nicht so lange auf Ergebnisse warten. Wie bei Corona. Das stimmt, aber da läuft es mit der Transparenz sehr viel besser als bei vielen anderen Fragen. Es wird offen über Irrtumsanfälligkeit gesprochen und niemand behauptet, er wisse komplett Bescheid.

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